Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 55
Text
Dazu liess man ihm bei Tag keine Ruhe und belehrte ihn, und
er musste Aufgaben machen, wo er allein sein und denken wollte, oder
man stiess ihn als überflüssig oder aus Zeitmangel von sich, wenn er
von seinen Dingen sprechen wollte. Jeden Tag waren fremde Menschen
da, meistens Männer, ungenirt und lärmend. Alle erschienen sie Ser-
joscha dunkel so, als wäre der Staub ihres ewigen Lachens an ihnen
haften geblieben.
Serjoscha wollte, dass wieder möglichst bald die Nacht anbreche;
er würde schauen, ob die Sterne auch heute so flimmern, wie sie
gestern flimmerten. Er hätte wieder eine Freude, aber der Tag — oh
wie langweilig! Dann ist ja alles so fremd und feindselig. Selbst der
Vater — ist ganz fremd. Er weiss nicht einmal, was er mit Serjoscha
spricht; bleibt vor ihm stehen, streichelt den Kopf, fragt etwas Un-
zusammenhängendes und Ueberflüssiges, wie zum Beispiel: »Nun, Ser-
joscha, wie?« und beginnt sofort, ohne abzuwarten, was Serjoscha sagen
werde, mit Anderen zu reden. Mama zwar fasst Serjoscha zuweilen bei
den Schultern und herzt ihn und spricht mit ihm und wird dann so
einfach und klar, dass Serjoscha sogar ihr aufgeputztes Kleid nicht
fürchtet und sich zutraulich an sie schmiegt. Aber das kommt nur
selten vor, sehr selten, sonst ist auch Mama ihm fremd, mit den Gästen
liebenswürdig, aufgeputzt und duftend für all diese langbeinigen und
komisch nach der Mode gekleideten Herren, gegen Serjoscha aber
kühl und nachlässig.
»Ja, auch die Mama ist fremd,« dachte Serjoscha, »und Alles,
was bei Tag vorgeht, ist langweilig, die Sterne aber — die sind mein;
alle blicken sie auf mich und gehen nicht weg. Sie sind hell. Und auf
der Erde ist Alles dunkel. Und die Mama ist nur selten hell. Vielleicht
ist aber meine Seele irgendwo dort, auf dem Stern, und ich bin hier
nur so allein, als wenn ich schlafen würde, und deshalb langweile
ich mich.«
Zur gewöhnlichen Zeit ging Serjoscha mit seinem Hofmeister
baden. Serjoscha wollte von seinen Gedanken sprechen und dachte,
dass es jetzt bequem sei, weil dem Studenten auch heiss und offenbar
traurig zu Muthe war; denn er schritt faul einher und lächelte nicht.
»Die Sonne ist dunkel,« erklärte Serjoscha zuerst.
Der Student gab einen unbestimmten Laut von sich.
»Es ist wahr,« betheuerte Serjoscha. »Man kann nicht darauf
sehen. Wenn man hinsieht, sind dann in den Augen dunkle Kreise.
Und der Tag ist dunkel, man sieht nichts am Himmel. Die Nacht
aber ist hell. Die Sterne sind besser als die Sonne.«
»Sie schweben zu hoch, Serjoscha,« unterbrach ihn faul der Stu-
dent, »Sie reden Unsinn.«
Die Rohheit des Studenten berührte Serjoscha unangenehm. Dennoch
sprach er weiter.
»Was für dumme Pferde gibt es hier auf der Erde,« sagte er
und blickte auf den demüthigen Kopf eines Droschkengaules.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 55, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0055.html)