Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 60

Das Meer (Reibrach, Jean)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 60

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60 REIBRACH.

Staunen durchlief die Menge, dann ein Hoffnungsschimmer,
und der Name des Mannes machte die Runde: Yves Lehanec,
ein Fischer aus dem Nachbardorfe, Yves, der Retter. Alle
kannten Yves. Man kannte den erbitterten Kampf zwischen
dem Meere und ihm. Es hatte ihm seinen Grossvater, seinen
Vater und seinen Bruder geraubt; aber für jedes dieser Opfer
hatte Yves ihm zehn andere entrissen, und er wird ihm neue und
immer neue entreissen, bis er selbst an die Reihe kommt — als
Opfer. Ein erbitterter Kampf ohne Waffenstillstand, tückisch und
grossartig, ein Kampf des Menschen gegen die rohe Gewalt,
des Bändigers gegen das wilde Thier, ein Kampf, aus dem
er stets noch siegreich hervorgegangen war. Die Erwartung
war fürchterlich. Yves gewann ja doch. Man sah ihn unter-
tauchen, verschwinden; und als er wieder erschien, hatte er
das Kind in den Händen. Er hob es hoch über seinen Kopf
wie eine Trophäe, und unter dem Rauschen des Beifalls-
sturmes schwamm er der Barke zu. Er erreichte sie: das
Kind lebte. Yves schüttelte seine durchnässten Kleider und
sagte schlicht: »Ich hab so ’ne Kröte wie diese da zu Hause!
Ich glaubte, sie wäre es!«

Und nach einigen in Eile erwiderten Händedrücken
verschwand er.

II.

Yves hatte seinen Weg zum Dorfe das Meer entlang
fortgesetzt. Sein rauhes Gesicht war verklärt durch den
Triumph, der aus seinem blauen Auge leuchtete; von der Höhe
der Klippe schien das Meer wie ein besiegter Feind zu seinen
Füssen zu liegen.

Der Stolz über seinen Sieg hatte etwas von lächelnder
Heiterkeit, von der Wollust des Starken.

Es war so schön, das böse Meer!

Ganz nahe war es lachend und kindlich. In ihrem leichten,
schäumenden, ausgefransten Rand spielte die See einen
Augenblick dunkelgrüne Farben, rollte sich ein, zerfloss und
rieselte herab: eine Ernte von Perlen, von stets verschlungenen,
in blauen, lila und rosa Reflexen zerschmelzenden und immer
wieder erstehenden Perlen. Sie spielte und flüsterte. Stellen-
weise war sie faul, und am Ufer trat sie kokett heran, um
wieder zurückzuweichen. Sie zeigte sich zärtlich, einschmei-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 60, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0060.html)