Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 61

Das Meer (Reibrach, Jean)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 61

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DAS MEER (LA GUEUSE). 61

chelnd, ergeben und ohne Groll über die Niederlage; und
dennoch verrätherisch mit plötzlich heftigem Schlagen gegen
die Klippen, mit unvorhergesehenem Aufschäumen und Spritzen,
das den ausgreifenden Tatzen eines Raubthieres glich, dessen
Augenlider geschlossen scheinen.

In der Breite veränderte sich die Anmuth der See in eine
strengere Schönheit, in eine erhabene Pracht.

Die untergehende Sonne beschien sie mit einem blen-
denden Glanz von schmelzendem Metall; die eilenden Wogen
warfen büschelweise ihren schaumigen Rand weit aus, und
glitzernd fiel er herab wie ein Stahlnetz aus tausend Maschen.
Und weit, unabsehbar weit, den Horizont ausfüllend, so lag
die Fluth da und verkörperte in sich die geheimnissvolle
Majestät der Unendlichkeit. Yves ging weiter, gewiegt von
tausend und abertausend Zauberstimmen. Zu seiner Rechten,
dem leuchtenden Geheimniss des Oceans gegenüber, lag das
dunkle Mysterium der druidischen Wälder, des steilen, ver-
wüsteten, melancholischen Bodens mit seinen heftigen, abge-
hackten Erhebungen, die Sturmwellen glichen, das Mysterium
der bretagnischen Steppe mit grauen Felsen und dazwischen
blühenden Ginstersträuchern, mit wellengekräuselten Farren,
der Steppe, die unter der Berührung der wilden Seewinde
ächzte und aufstöhnte. Dann ging’s bergan über steile Klippen;
Yves entdeckte sein Dörfchen. Die um den Kirchthurm zer-
streut gebauten Häuser lagen da wie eine um ihren Hirten
gelagerte Heerde. Und unten am Wege erkannte er sein
Haus, das am Meere dort stand wie eine kühne Herausforde-
rung, ein baufälliges, von Wind und Regen gepeitschtes,
ausgebröckeltes, klägliches und doch muthiges Häuschen,
das gleichsam all das Elend verkörperte, dem es seit jeher
Obdach gab.

Ah! Das Elend! Das bittere Elend! Bitter und doch so
süss, wenn es überstanden war, das Elend, das den geringsten
Freudestrahl in seinem blauen Auge so herrlich und glänzend
verstärkte.

Es war Freudentag heute. Das Häuschen, rosig über-
gossen von den Strahlen der untergehenden Sonne, lachte
ihm zu. Der Mann ging trotz seiner schweren Kleider leichten
Schrittes dem Heim entgegen, das seiner harrte. Der neuer-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 61, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0061.html)