Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 106
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ein Auge hat, kaum wohl so ungeschickt sein werden, auch
Flugschriften noch zu colportiren. Um diese Schwäche zu
decken, hatte die Staatsanwaltschaft rechtzeitig einen anderen
Beweis herbeigeschafft, der allerdings verderblich schien:
eine Masse von Adressschleifen und Couverts, in denen jene
Pamphlete verschickt worden waren. Die Schrift auf diesen
Schleifen und Couverts hatte nun eine verzweifelte Aehn-
lichkeit mit der Handschrift der Angeklagten. Das heraus-
zufinden, dazu bedurfte es nicht einmal der Befähigungs-
unwissenheit der Sachverständigen im Schreibfache, deren
Gutachten die Anklage als Aufputz verwendete.
So stand die Sache schlimm.
Es war eine Woche vor Weihnachten, als der Process
seinen Anfang nahm. Der jetzige Bürgermeister von Leoben
und ich hatten die Vertheidigung zu führen. Die ersten Tage
gleich ging es herzlich schlecht. Die blutrünstige, tollwüthige
Sprache der zur Verlesung gelangten zahllosen Schmäh-
schriften, nicht wenig auch der ungebrochene Trotz der An-
geklagten, mit dem sie ihr socialistisches Bekenntniss vor-
trugen, hatten die zumeist den Kreisen der Beamten und
Montanunternehmer angehörigen Geschwornen in eine dü-
stere, nervös gereizte Stimmung versetzt. Die dramatische
Steigerung sollte nun an einem der letzten Verhandlungstage
ihren kräftigen Abschluss erfahren. Denn die Vernehmung
der Sachverständigen im Schreibfache war als Haupttrumpf
der Anklage gedacht. Das schriftliche Gutachten, das sie im
Untersuchungsverfahren abgelegt hatten, war für meine
Clienten vernichtend; es schloss jeden Zweifel an der An-
nahme aus, dass sie die Absender der Schriften seien.
Der grosse Augenblick war endlich da. Die Herren
Schriftgelehrten waren eingetreten und wiederholten nun ihr
Gutachten: jedes Wort ein Galgen. Ich war einer Ohnmacht
nahe, und nur die Rücksicht auf meinen triumphirenden
Processgegner, den Staatsanwalt, hielt mich ab, in sie zu
fallen. Gewiss hätten die beiden Schriftgelehrten es mit dem
Leben gebüsst, wenn der kleinste Theil jener Wünsche in
Erfüllung gegangen wäre, die ich in jenem Momente für sie
hatte. Sie wollten sich schon mit feierlicher Geberde zurück-
ziehen, als ich mich rasch noch ermannte und mir das Wort zur
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 106, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0106.html)