Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 109
Text
WERK.*)
»Die versunkene Glocke« wurde am 2. December im
Berliner »Deutschen Theater« zum erstenmale aufgeführt
und erschien gleichzeitig in Buchform. Eine symbolische
Dichtung, in der die individuelle Fortschrittsgier eines Men-
schen verkörpert wird, welcher der Gesammtentwicklung der
Menschheit zu weit voraneilen will. Der Glockengiesser
Heinrich hat in seinem Berufe Hervorragendes geleistet und
wird von seinen Mitbürgern mit Bewunderung »Meister«
genannt. Besonders seine letzte Schöpfung ist ihm gelungen,
eine Glocke, die eben nach einer hochgelegenen Bergkirche
befördert wird. Aus ihrem Klang tönen ihm alle seine Zu-
kunftshoffnungen entgegen. Wenig Hindernisse hemmten
bisher seinen Schöpferdrang. Frau und Kinder und seine
ganze Umgebung boten ihm fruchtbringende Anregungen.
Ein Zufallskobold bewirkt durch einen Radbruch, dass die
Glocke bergab stürzt in den tiefen See; der Meister wird
mitgerissen, rettet jedoch mit knapper Noth sein physisches
Leben — das geistige liegt mit der Glocke begraben. Er
fühlt, dass er die Anregungen seiner bisherigen Umgebung
künstlerisch aufgebraucht, für seine schöpferischen Thaten
nichts mehr von ihr zu erwarten hat, und zum Handwerker,
der immer gleich gute, aber keine neu ersonnenen Werke
liefern kann, will er nicht werden. Er sehnt sich, eine Welt
zu verlassen, für die er innerhalb seiner natürlichen Ent-
wicklungsschranken nichts Grosses fürder leisten kann. Ein
Zufall hat seine Hoffnungen zerstört, ein Zufall hat sein
Leben gerettet, und auf dem Todtenbette liegend, geht er
einen Pact ein mit den durch eine Elfe symbolisirten Zu-
fällen der grossen Natur. Jetzt überschlägt sich die Toll-
*) »Die versunkene Glocke.« Ein deutsches Märchendrama. Berlin.
Verlag S. Fischer.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 109, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0109.html)