Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 107

Text

EINE RETTUNG. 107

Fragestellung erbat. »Ist Ihnen bekannt,« apostrophirte ich sie,
»dass alle Menschen, die rechtshändig zu schreiben gewohnt
sind, mit der linken Hand gleich oder in hohem Grade ähnlich
schreiben?« Ich hatte keine Zeit, mich über das höhnische
Lächeln der verehrten Schriftgelehrten zu ärgern, denn in
demselben Augenblicke unterbrach mich der Vorsitzende und
verlangte von mir Aufschluss, was ich mit diesem Paradoxon
beweisen wolle. Ich gab also folgende Erklärung: Wenn er-
wiesen würde, dass die Schriftzüge der linken Hand gleich oder
sehr ähnlich sind, dann wäre der Grund dieser Erscheinung
darin zu suchen, dass wir mit der linken Hand nicht zu
schreiben pflegen. Der gemeinsame Charakterzug der linken
Handschrift (wenn man so sagen darf) ist Unbeholfenheit,
Holprigkeit, Charakterlosigkeit. Die linke Hand handhabt
Stift und Feder rein mechanisch, kindisch, als etwas ganz
Ungewohntes, Fremdes, Verkehrtes. Ihr Erzeugniss, der
Schriftzug, entbehrt daher des Persönlichen, des Individuellen.
Darum schreiben die Menschen mit der linken Hand alle
gleich oder ungemein ähnlich. Ist dies aber einmal bewiesen,
dann muss logisch gefolgert werden, dass Personen, denen
das Schreiben überhaupt Mühe macht, weil es ihnen an der
Uebung fehlt, wie z. B. regelmässig Arbeiter, mit ihrer
rechten Hand ähnliche Schriftzüge hervorbringen als andere,
schreibgeübte Personen mit der linken. Im Punkte des
Schreibens ist die Rechte des »gemeinen Mannes« so linkisch
wie die Linke eines Advocaten. Die Schriftzüge solcher Per-
sonen werden darum einander ebenso gleichen wie sonst nur
linke Handschriften. Aus dem Gesagten dürfe ich aber weiter
folgern, dass die auffallende Aehnlichkeit zwischen der
Schrift auf den Adressschleifen und der Handschrift der An-
geklagten nicht die geringste Gewähr für die Unterstellung
biete, dass die Angeklagten auch jene Schleifen und Couverts
beschrieben haben. Man werde nach dem Gesagten unter
den hiesigen Arbeitern zahllose Personen finden, deren Hand-
schrift mit den vorliegenden Adressen dieselbe hohe Aehn-
lichkeit aufweise.

Der Präsident fand dieses Raisonnement überzeugend,
nur äusserte er seine Bedenken gegen die Richtigkeit der
Prämisse, nämlich der These von der Aehnlichkeit aller

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 107, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0107.html)