Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 114
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Kräften dem Tode ein paar Novellen abzuringen bemüht ist,
sehen wir ihn mit der Anempfindung einiger Sentimentali-
täten über Begräbnisse, Friedhofskränze und Hinterbliebene
eifrig beschäftigt. Seine Production muss man sich so vor-
stellen, dass er, eine Art Nuancenzuträger, sämmtliche Ein-
fälle seines accreditirteren Freundes in Aufbewahrung hat
und dafür jeden zehnten benützen darf. Wiewohl er in einem
Ausverkaufe von Individualitäten billig zu einer solchen
gekommen sein soll, hat sich ihm das reine Künstlerthum
auf die Dauer doch nicht rentirt. Er, dem es in seinem
Kreise stets eingeschärft worden war, auf die Tagesschrift-
steller mit Verachtung herabzusehen, lief bald in den Hafen
der Journalistik ein, aber mit dem festen Vorsatz, sich als ehe-
maliger Literat über das Niveau seiner nunmehrigen Collegen
zu erheben. Glücklicherweise war ihm noch von früher her
der Tonfall modernen Styles im Ohre geblieben, seine Freunde
hatten ihm einige unterstandslose Beobachtungen mit auf
den Weg gegeben, und ein paar verkommene Nuancen, die
einst vom Tische abgefallen waren, raffte er noch in Eile auf. Im
Uebrigen mit einer tüchtigen Portion Selbstvertrauen begabt,
wohl wissend, dass er, wo er sich nicht auf seine Freunde
verlassen könne, schon auf eigene Faust undeutsch schreiben
werde, begann er seine Thätigkeit. Zunächst fragte er einen
Wachmann nach der Lage des Theaters, dessen Tradition
zu bekämpfen er entschlossen war. Man kann sagen, er hat
bis heute doch die wichtigsten Stücke Schiller’s und Sha-
kespeare’s gesehen — warum zögert die Direction so lange
mit dem Königsdramen-Cyklus? »Hamlet« z. B. sah er ge-
legentlich einer Neubesetzung zum erstenmale, wobei er als
gewissenhafter Recensent nicht verfehlte, vorher sich von
der Directionskanzlei das Manuscript zu erbitten; und mit
der ganzen Lapidarität, mit der sich seine Seichtheit nicht
selten auszudrücken liebte, soll er kürzlich, entzückt, so weit
es seine Würde zuliess, ausgerufen haben: »Man wird die
Wolter im Auge behalten müssen!« Stets hat er sich als der
schneidige, unabhängige Kritiker erwiesen, der weder nach
oben noch nach unten Coricessionen macht, ja selbst mit
Hintansetzung aller grammatikalischen Rücksichten gegen
Uebelstände energisch Stellung zu nehmen bereit ist. Der
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 114, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0114.html)