Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 115

Die demolirte Literatur (Kraus, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 115

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DIE DEMOLIRTE LITERATUR. 115

reformatorische Eifer berührte sympathisch, wenn er, ein
eingewurzeltes Vorurtheil bekämpfend, dem Schauspieler
Martinelli eine »breite, behagliche Gemüthlichkeit« nach-
rühmte. Als Ironiker stand er allzeit auf eigenen Gänsefüsschen,
und wenn es die Geisselung des Wiener Komödiantencultus
galt, drohten in der Druckerei die Anführungszeichen aus-
zugehen; denn immer neue uninteressante Seiten wusste er
diesem Thema abzugewinnen. Einige Fremdwörter kamen
ihm so neu vor, dass er es mit ihnen immer wieder versuchen
zu müssen glaubte; so behauptete er stets, dass Herr Reimers
ad spectatores spreche und dass das Fräulein Bleibtreu
karyatidenhaft sei. Vielleicht war hier die Freude, Ausdrücke,
die man sonst erst im Obergymnasium kennen lernt, schon
nach vier Classen zu beherrschen, doch etwas zu stark betont.

Eines Tages liess er sich Muther’s »Geschichte der
Malerei des XIX. Jahrhunderts« als Recensionsexemplar
kommen und ward so Kunstkritiker. Als bald darauf die
Muther-Hetze losging, der berühmte Kunsthistoriker vielfach
des Plagiats beschuldigt und Alles hervorgeholt wurde, was
bis dahin in Deutschland in seinem Fache geschrieben
worden war, erzählte man sich, Muther habe auch unsern
Recensenten benützt.

Im journalistischen Dienste hart mitgenommen, hat sich
der Literat bis heute doch seine Eigenart zu wahren gewusst.
Die Verwechslung des Dativs mit dem Accusativ gelingt ihm
noch immer mit unverminderter Jugendfrische. Anfänglich
hatte er wohl mit dem Widerstand der Setzer zu kämpfen,
die bekanntlich immer klüger sein wollen als der Schrift-
steller und gerne corrigiren, weil sie für undeutsch ansehen,
was individuellster Ausdruck einer künstlerischen Persön-
lichkeit ist, aber bald lernten sie die Eigenart unseres Autors
respectiren, und sein Talent setzte sich durch. Ungehindert
konnte er sich nun ausleben, und man erkannte ihn auch in
nicht unterzeichneten Artikeln. Wenn er z. B. bei einer
alternden Schauspielerin den »heissen Athem« vermisste, »der
Einem nur aus kindlichem Mädchenbusen anweht«, so wäre
es ein Uebriges gewesen, hier auch noch seine Chiffre hinzu-
zufügen. Selbstverständlich begegnet er die Leute, aber
auch diesen Accusativ weiss er wieder zu verwechseln und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 115, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0115.html)