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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 124

Text

124 DOSTOJEWSKY.

Ich sah da viel Lustigkeit und herzliche Fröhlichkeit. Ich ass und trank
etwas.

Danach betheiligte ich mich eigenhändig an der Uebertragung des
Sarges aus der Kirche nach dem Grabhügel.

Warum werden die Todten im Sarge gar so schwer? Man sagt
in Folge irgend einer Trägheit der Materie, dass der Körper sich
gleichsam selbst nicht regieren könne oder einen ähnlichen Unsinn.
Das widerspricht der Mechanik und dem gesunden Menschenverstande.
Ich liebe es nicht, wie man bei uns, trotz einer bloss allgemeinen Bil-
dung, sich in Besonderheiten einmengt und über sie entscheidet. Bei uns
geschieht das durchwegs. Beamte lieben es, über militärische, sogar über
Feldherrnangelegenheiten zu urtheilen. Leute von technischer Bildung
urtheilen am liebsten über Philosophie und Nationalökonomie.

Zum Leichenschmaus bin ich nicht gefahren. Ich bin stolz, und
wenn man mich nur in aussergewöhnlichen, unvermeidlichen Fällen
empfängt, so sehe ich nicht ein, warum ich bei ihren Gastmählern
herumziehen soll, auch wenn es Trauermahle sind. Ich begreife nur
nicht, warum ich auf dem Friedhof blieb; ich setzte mich auf einen
Grabstein und begann in dieser Stimmung zu spintisiren.

Ich fing mit der Moskauer Ausstellung an und endigte mit der Ver-
wunderung im Allgemeinen, als Thema gedacht. Da ist nun, was ich
über die »Verwunderung« herausbrachte:

»Sich über Alles zu verwundern ist natürlich dumm; über gar
nichts aber verwundert zu sein, ist bedeutend hübscher und wird aus
irgend einem Grunde als guter Ton bezeichnet. Allein in Wirklichkeit
ist es wohl kaum so. Nach meiner Meinung ist es viel dümmer, sich über
nichts zu verwundern als über Alles. Ja, und ausserdem: sich über
nichts verwundern ist fast dasselbe, wie nichts schätzen, der dumme
Mensch versteht eben nichts zu schätzen.«

»Ja, ich will vor Allem schätzen, ich dürste danach, etwas
zu schätzen,« sagte mir da neulich ein Bekannter.

Er dürstet danach, etwas hochzuhalten? Du lieber Gott, dachte
ich, was geschähe mit dir, wenn du es wagtest, das jetzt zu drucken!

Hier ging mein Denken in Träumen über. Ich liebe es nicht,
Grabschriften zu lesen, immer Eines und das Nämliche. Auf der Grab-
platte neben mir lag eine unaufgezehrte Butterbemme; dumm und nicht
am Platze! Ich warf sie auf die Erde, weil es doch nicht Brot war,
sondern nur eine Butterbemme. Ich muss annehmen, dass ich lange
da sass, sogar zu lange; das heisst, ich legte mich sogar auf den Stein
hin, der die Form eines Marmorsarges hatte. Wie aber kam es, dass ich
plötzlich verschiedene Dinge zu hören bekam? Ich merkte anfangs nicht
darauf und verhielt mich verächtlich dagegen. Allein das Sprechen dauerte
fort. Ich höre dumpfe Laute, als ob die Redenden von Kissen bedeckt
wären, dabei aber tönt es deutlich und sehr nahe. Ich ermunterte mich,
setzte mich auf und fing an, aufmerksam zu lauschen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 124, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0124.html)