Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 145
Text
So wirkt denn im Ganzen die Kunst Melchior Lechter’s ziemlich
eintönig. Wir können diese Dissonanzlosigkeit nicht gut mehr ver-
tragen. Sie wirkt auf uns schon fast wie Geistlosigkeit. »Ein ewig
blauer Himmel lacht über Griechenland.« O Gott, wir fürchten
diesen ewig blauen Himmel. Ein Gran von Disharmonie ist uns
modernen Menschen schon längst zum ästhetischen Bedürfniss ge-
worden. Eine vollkommene Beschwichtigung wirkt auf uns wie Be-
täubung. Und wenn wir lange am Quell der Schönheit getrunken haben,
verlangen wir stürmisch — nach Hässlichkeit, ja nach Gemeinheit! Wird
man mich verstehen, wenn ich sage, dass in diesem Manco bei Lechter
seine Inferiorität gegenüber Böcklin begründet liegt? Daher hat Lechter
denn auch keinen Humor, weil er nicht den Muth zur Fratze hat.
So sehen wir hier deutlich die nothwendige Schranke einer ein-
seitig decorativen Begabung.
Nach all den voraufgegangenen Stürmen bringt Lechter uns
den Frieden. Es fragt sich, ob wir diesen Frieden wollen? Ob wir
uns bei ihm beruhigen können? Gewiss, bei ihm, bei Melchior Lechter,
als einem einzelnen, künstlerisch begabten Individuum. Ihn werden wir
gerne geniessen, ab und zu einmal, wenn wir des Meeres und seiner
hohen Wellen müde sind. Aber wir können uns nicht von ihm ein-
lullen lassen.
Gewiss, er fühlt ja auch mit, was die Brust des modernen
Menschen bedrückt und beklemmt. Hinter all der Abgeklärtheit ruht
auch bei ihm eine feine, tiefe Schmerzlichkeit. Aber sie löst sich doch
wieder auf in sanfte harmonische Schwingung. Da ist das herrliche
Bild »Tristis est anima mea usque ad mortem«, eine farbige Symbo-
lisirung des E-Moll-Präludiums von Chopin. Auf jener weissmarmornen
Bank sitzt ein Weib, von sehnsüchtiger Trauer erfüllt. Der schmale
Arm ruht, weit ausgestreckt, auf der Schulterbrüstung. Der verhärmte
Kopf mit dem schattentiefen Auge ist leise-schmerzhaft gehoben.
Rother Mohn ist ihr aus den Händen gesunken. So sitzt sie und blickt
über ein endloses Orchideenfeld, das mit mattem Lila bis an den
Horizont wächst. Ganz fern ein niederes blaues Gebirge, darüber im
grünlich glimmernden Himmel ein scharfer Wolkenstreif. Das ist Alles.
Tristis est anima mea usque ad mortem.
Das ist eine Elegie, classisch-gedämpft, in verzogenen, weich ver-
dämmernden Accorden. Largo, immer largo. Largo maestoso.
So ist auch hier der Schmerz wieder verklärt, gleichsam seiner
Stosskraft beraubt. Das ist auf diesem Bilde weihevoll-schön, und wir
lassen es andachtsvoll auf uns wirken. Aber im Innern wissen wir von
tieferen, von gewaltigeren Schmerzen, die nicht so einfach in ein Largo
sich auflösen lassen, die wir zwar auch werden bändigen müssen,
aber denen doch stets die Sturmmöven voranfliegen. Und von diesen
Schmerzen des gebärenden Menschengeistes scheint Melchior Lechter
nichts zu wissen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 145, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0145.html)