Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 180
Text
Palomides.
Schliess’ nicht die Augen, wenn ich dich so küsse
Ich will die Küsse sehen, die in deinem Herzen zittern; und
all den Thau, der aus deiner Seele quillt uns werden
keine Küsse mehr zu theil wie diese
Alladine.
Immer, immer!
Palomides.
Nein, nein; man küsst kein zweitesmal unter den Fit-
tichen des Todes Wie schön du bist! Es ist das
erstemal, dass ich dich in der Nähe sehe Wie eigen, man
glaubt, eins das andere gesehen zu haben, weil man zwei Schritte
weit an einander vorüberging; aber Alles verwandelt sich
im Augenblick, da die Lippen sich berühren So ist es;
ich muss dich gewähren lassen Ich strecke die Arme
aus, um dich zu bewundern, als wärest du nicht mehr mein,
und schliesse dich dann wieder an mich, bis ich deine Küsse
fühle und nichts mehr als ewige Seligkeit gewahre Wir
bedurften dieses übernatürlichen Lichtes! (Er küsst sie wieder.)
Ach! Was thust du? Gib Acht, wir stehen auf dem Grat
eines Felsens, der über das leuchtende Meer ragt. Tritt
nicht zurück. Es war hohe Zeit Wende dich nicht zu
rasch um. Ich war geblendet
Alladine
(wendet sich um und betrachtet das blaue Wasser, das sie beleuchtet). Oh!
Palomides.
Man könnte glauben, der Himmel fluthet bis hieher
Alladine.
Das Wasser ist voll regungsloser Blumen
Palomides.
Es ist voll regungsloser, sonderbarer Blumen Siehst
du die grösste, die unter den anderen erblüht? Es scheint,
sie lebt ein rhythmisches Leben Und das Wasser
Ist es Wasser? Es scheint schöner und klarer und blauer
als alles Wasser der Erde
Alladine.
Ich wage nicht mehr, es anzublicken
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 180, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0180.html)