Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 192
Text
eleganten Mussestunden anspielend: »Hüten wir uns, diese heiteren
Vereinigungen zu tadeln, in welchen die jungen Leute gemeinsam ihre
Jugend feiern! Hier knüpfen sie Bande an, die sie durch alle Missver-
ständnisse des Lebens hindurch vereinen werden. O wie reich an Vor-
theilen für das ganze Leben sind sie, diese ohne Berechnung ge-
schlossenen Kameradschaften des zwanzigsten Jahres!«
Beredte, doch allzu falsche Verheissung! Sie sind dahingeschwunden,
die Hoffnungen, die ich auf die mitternächtigen Schnecken gründete.
So oft es mir vortheilhaft gewesen wäre, wollten diejenigen, die einst
an meiner Seite sassen, sich dessen nicht erinnern. Vereinigten wir in
dieser Verbindung denn nichts als den unerträglichen Rauch unserer
Cigarren? Diese fürs ganze Leben mir verheissenen Kameraden, sie
kannten mich nicht mehr vom Tage an, da unsere Interessen sich um
einen Schimmer unterschieden. In Nancy fehlte nicht viel, so hätten
mir die Jüngeren, meine Nachfolger auf der Liste der Verbindung, in
öffentlicher Versammlung die Zunge herausgereckt, und meine Zeit-
genossen, die doch meine alten Kameraden waren, gingen so weit,
mich als Cäsaristen zu behandeln, trotzdem ich einst ihr Unter-
bibliothekar gewesen war!
Ich glaube, man sollte sich vernünftigerweise damit begnügen, in
diesen Verbindungen eine den Studenten gebotene Gelegenheit zur Be-
quemlichkeit und billigen Unterhaltung zu erblicken. Mittelst eines
kleinen Beitrages sind sie vollkommen untergebracht. Ganz gut, aber
nun sind sie auch uniformirt.
Die Verbindung vereinigt junge Leute, die in kleinen Gruppen
lebten, und setzt sie überdies auch ausserhalb der Vorlesungen unter
den Einfluss ihrer Professoren; sie setzt an Stelle der ehemals in Sitten,
Bestrebungen und Ansichten so verschiedenen Studenten einen gleich-
förmigen Typus. Diese Beschlagnahme der Initiative der Jugend halte
ich für höchst bedenklich.
Seltsame Raserei, diese moderne Manie, allen Geistern eine ge-
meinsame Form zu geben und das Individuum zu brechen! Schon den
Kindern wird, so verschieden ihre Natur auch sei, unter der Leitung
der Schule dieselbe Zucht, dieselbe Sitte auferlegt. Von einem Ende
Frankreichs bis zum andern sind Alle verpflichtet, zu bestimmten
Stunden zu sprechen, sich zu bewegen, Bücher zu lesen, die sie nicht
gewählt, und Phrasen zu schreiben, die sie nicht verstanden haben.
Kein Zugeständniss an die Freiheit eines geistigen Wesens, das sich
selbst sucht, oder an eine Eigenart, die sich bildet.
Nach dieser verdammenswerthen Erziehung, aus der die Mehr-
zahl jeder Generation stumpfsinnig und nur mehr brauchbar für die
mechanische Thätigkeit des niederen Verwaltungsdienstes hervorgeht,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 192, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0192.html)