Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 193
Text
gab man den jungen Leuten wenigstens einen Theil geistiger Freiheit
zurück. Diejenigen, welche durch die spanischen Stiefel der Schulordnungen
nicht verstümmelt waren, machten sich auf, um ihren Weg zu suchen.
Ausserhalb der Höfe der Facultät hatten sie das Recht und die Fähig-
keit, ihre Persönlichkeit zu entdecken. Da wurden sie Menschen.
Ja, bis zur Stunde war das Leben nach dem Gymnasium den
Studenten die Befreiung. Und an diese Befreiten, an diese Kinder,
denen die Gesellschaft einige Jahre halber Unabhängigkeit gönnte,
damit sie ihren Lebenstraum sich wählen könnten, an sie legt ihr nun
Hand an!
Eine Freundeshand, sagt ihr, die Hand älterer Kameraden, die
sich den Bestrebungen der jungen Generation zugesellen wollen! Leeres
Gerede! Lehrer und Schüler wirken nicht zusammen; so vorsichtig
eure Einmischung sein mag, die Ideen, welche ihr ihnen anzurathen
glaubt, ihr zwingt sie ihnen auf, und zwar durch die Autorität eurer
Wissenschaft und eures Alters, und ausserdem, ihr vortrefflichen
Menschenkenner, traue ich euch auch nicht zu, dass ihr die wirklichen
Instincte zu entdecken vermögt, die ihnen selbst noch unbekannt sind.
Einer zwanzigjährigen Seele, die sich eben entfalten will, hilft man
nicht, ohne sie zu schädigen.
Geist und Gemüth besitzen die allein, welche in innigem Contact
mit ihrem Ich leben.
Um welche Denkrichtung immer es sich handle, Ursprünglich-
keit wird nur demjenigen zu eigen sein, der die volle Wahrheit
ohne Vermittlung, ohne Voraussetzung sucht, vorwärts tastend, bis er
den wahren Grund seiner Natur erreicht. Ausgezeichnete Lehrer, ehr-
liche Kameraden, sie ersetzen das starke, innere Nachsinnen nicht, das
ihre Gegenwart unmöglich macht. Wahrlich, die Taine, die Renan, die
Michelet sehe ich ihren zwanzigjährigen Geist nicht auf diesen mageren
Weiden von zweitausend jungen Leuten des Kleinbürgerthums nähren,
denen nichts gemeinsam ist, als ihre erbärmliche Lycäumserfahrung,
ihre ererbte Blödigkeit und ihr Spectakel.
Ah, wie schön war die Jugendzeit Michelet’s, der sich in zarte,
häusliche Sorgen und in Gespräche mit allen Genies der Menschheit
wie mit seinesgleichen einschloss. Sein Freundeskreis war seine einzige
Erholung, Bibliotheken erschienen ihm schön wie Tempel, weil er ein
Herz dahin trug, das durch die Gesellschaft der Mittelmässigen und
ihre eitlen Auseinandersetzungen noch nicht abgeschmackt war! O du
Süssigkeit und o du Bitterniss des einsamen Lebens, die ihr beide
gleich fruchtbar seid! Dieses Mitleid mit sich selbst, dieses Studium
der Feinheiten seines Gefühllebens, dieser Vergleich seines Ich mit
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 193, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0193.html)