Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 194

Die Uniformirung der Jugend (Barrès, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 194

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194 BARRÈS.

glänzenderen Fähigkeiten, all der unschuldige Egoismus des jungen
Mannes, der einsam lebt — das ist die religiöse Empfängniss des
Lebens, eine Morgenröthe des Idealismus.

Wie sollte sie das Fieber, das aus dem feuchten Sande der
Gärten von Luxemburg aufsteigt, kennen, diese Herde der Association?
Der Hauch, der aus diesen Platanen weht und der so viele jugendliche
Genies berathen hat, wird kaum bemerkt von dem, der einen Billard-
saal, zweihundert Journale, Mahlzeiten zu herabgesetzten Preisen und
zweitausend Kameraden hat, von welchen manche so entzückend
Couplets singen.

Aber wenn ihnen das innere Leben fehlt, wird Paris sie wenig-
stens unterrichtet haben? In dieser Periode verschwenderischen Wachs-
thums, ungeheurer Thätigkeit, in der sich der junge Mann bildet, seinen
Weg sucht, den Sinn seiner Zeit entdeckt, würde ein, würden zwei
Freunde genügen, um am Abend gemeinsam die Eindrücke des Tages
zu besprechen; aber so viele Kameraden sind ihm eine Welt, aus der
er nicht mehr entrinnen wird.

Könnte er ihnen entkommen? Ich weiss es nicht, aber er hat
nicht mehr den Wunsch danach. Mit ihrer Geselligkeit, mit ihrer Be-
quemlichkeit sind sie sein materielles Milieu geworden, bald werden
sie auch sein geistiges sein; sie bilden seine Atmosphäre. In den Vor-
lesungen der Facultät, dann im Café, im Lese- oder Billardsaal findet
er sie wieder; von jedem unter ihnen empfängt er genau die gleichen
Ideen, die er selbst hat, seine Vorurtheile, seine Unwissenheit — ge-
wöhnlichen Ballast, gleich Allem, was Menschen, sobald sie sich ver-
sammeln, nach einem bleibenden Gesetz hervorbringen. Bringt junge
Leute zusammen: die vorzüglichsten werden herabsinken, die schlechtesten
werden steigen, und es wird sich ein niedriges Niveau der Mittelmässig-
keit ergeben.

Er lebt in einem unendlichen Centrum, sagt ihr, in der Stadt,
wo die Mannigfaltigkeit der Gedanken, der Thatsachen, der Charaktere
und der Standpunkte unbegrenzt ist?!! Leerer Schein! Bezaubert durch
die leichten Bekanntschaften, zu denen er durch die Association ge-
langt, bringt er in Paris sechs Jahre als Gefangener zu, ohne von den
dort ausgebreiteten Schätzen irgend etwas aufgelesen zu haben.

Können mir die hervorragenden Männer, die diese Associationen
protegiren, widersprechen? Wie könnte man sich wohl den Grundsätzen
verschliessen, die ich in Folgendem zusammenfasse:

1. Junge Leute, die sich verbinden, haben nichts gemein als ihre
Mittelmässigkeit, denn sie finden Berührungspunkte nur in ihren ge-
wöhnlichsten Angelegenheiten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 194, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0194.html)