Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 204

Eine Schauspielerin (Reuter, Gabriele)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 204

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204 REUTER.

Bald mahnte Excellenz Wabern selbst zum Aufbruch. Ihre liebe
Olga dürfte nicht überanstrengt werden.

Eine Strasse weit blieben die Gäste noch plaudernd beisammen,
dann schieden sich die Wege. Der Director bestieg den letzten vorüber-
fahrenden Pferdebahnwagen, Heller begleitete seine Braut auf ihrem
Heimwege. Sie hauste mit einer alten Dienerin in einer hübschen,
kleinen Wohnung, ziemlich weit draussen in der Vorstadt. Sie brauche
frische Luft um sich her, erzählte sie Heller.

Die Gaslaternen waren schon fast alle verlöscht. Irgendwo hinter
den Wolken stand der Mond. Man sah ihn nicht, doch wandelte er die
Finsterniss zu sanfter Dämmerung. Es war eine laue Vorfrühlingsnacht.
Ein weicher Hauch strich thauend an den schneebeladenen Dächern
entlang und löste schwere Tropfen, die klatschend niederfielen. Die
Strassen waren noch trocken, man wanderte leicht und angenehm.
Olga löste die Spangen ihres Mantels und warf die Enden ihres
Spitzenshawls zurück; es wurde ihr warm.

Heller drückte ihren Arm leise an sich, und sie schmiegte sich
an seine Seite. Das allgemeine Gespräch hatte bis zum letzten Augen-
blick von den Beziehungen des Lebens zur Kunst und der Kunst
zum Leben gehandelt. Es war köstlich für Olga, sich einmal frei aus-
sprechen zu können mit einem erfahrenen und gescheiten Manne.
Was wurde auf diese Weise nicht angeregt und neu geweckt! Reich
und schön musste die Zukunft werden!

Als sie von ihr zu träumen begann, wurde sie still, und Heller
verstummte auch.

Olga athmete tief, wie zu einem schweren Glückesseufzer hob
sich ihre Brust.

Heller nahm ihre Hand und spielte liebkosend mit ihren Fingern.
Sie fühlte, dass seine Augen auf ihr weilten. Sie hob die ihren, lange
blickten sie sich an. Und dann wandte sie sich scheu beklommen ab.
Sie war verwirrt und fühlte eine plötzliche Angst vor der Liebe.

»Hier bin ich daheim,« sagte sie leise und war froh, dass sie
zum Ziele gelangt war — sie wusste selbst nicht, weshalb.

Aber Heller zog sie fester an sich und küsste sie im Schatten
der Hausthür.

»Meine Olly — mein süsses Kind — hast du mich lieb? Sag’ es
mir nur ein einzigesmal!«

Und bebend hauchte sie »Ja«.

Leise, wie ein schwüler, betäubender Hauch drang sein inniges
Flüstern zu ihrem Ohr. Sie lauschte athemlos.

Und plötzlich verstand sie ihn.

Mit einem Wehelaut riss sie sich los und floh in Todesangst vor
ihm, stürzte die Treppen hinauf — hinauf in ihre Wohnung, deren
Thür sie mit fliegenden Händen hinter sich verschloss.

Oben in ihrem Zimmer, das von dem Schein einer kleinen Lampe
traulich erhellt wurde, stand sie erschöpft und betäubt — zerstört.
Ihre Blicke wanderten mechanisch über die Dinge umher; den Schreib-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 204, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0204.html)