Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 263
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sinnlichen Princips abgesehen war, zeigt die Sitte in Oberschwaben.
Dort wurde der Hochzeiterin von ihrem Hause bis zum Stall des
Dorfhagen (Zuchtstiers) Spreu gestreut (Sepp). Das war gewiss deutlich.
Auch das »Märzrufen«, das Tratto Marzo, am Gardasee und in
den anstossenden Bergen gehört hieher. Dort werden in den ersten
Tagen des März bei einbrechender Dunkelheit von unbekannter Stimme
vor den versammelten Bewohnern des Städtchens die bekannten und
heimlichen Liebespaare des Ortes ausgerufen, wobei die Volksmenge
unter Gelächter und Witzen ihre Glossen dazumacht, die Paare
applaudirt oder als nicht statthatt zurückweist. Auch hier fallen rohe
und obscöne Bemerkungen, die schliesslich zur Hauptsache werden.
Auch hier hat die Regierung vergeblich gesucht, die uralte Sitte, die
schon Horaz kannte, abzustellen.
Schliesslich dürfen wir aber unsere »Polterabende« nicht über-
gehen. Es handelt sich doch auch hier um eine mehr weniger harm-
lose Neckerei der Brautleute, um das Anrussen der Gesichter beim
»Schwarz-Peter«-Spiel, um allerlei Schelmenstücke, bei denen immer
wieder das Brautpaar die Zielscheibe des Spottes ist, und um lärmendes
Austoben der jungen Leute und Sichgehenlassen, wobei die Grossen
selbstgefällig zuschauen. Also eine Art Salon-Charivari. Aber doch Chari-
vari. Doch ein kleines Haberfeld treiben.
Was hat das nun Alles für einen Sinn? Auf welchem religiösen,
sittlichen, Gewohnheits- oder humoristischen Motiv baut sich dieses
Hänseln, dieses Necken von Liebesleuten auf? Dieses Verächtlich-
machen des hedonistischen Princips? Auch wir, wir Alle, wenn uns
Jemand sagt, dass er sich verlobt habe, haben da ein höhnisches
Grinsen in Bereitschaft. Was gibt es da zu lachen? Ja, wir lachen
Alle und wissen nicht warum. Steckt da irgend ein todter, psycholo-
gischer Kern in uns, dessen wir nicht bewusst werden? Warum ver-
höhnen wir unsere Nebenmenschen, wenn der heiligste und gewaltigste
Naturtrieb sie zu einander führt, in einer Situation, die die alten
Culturvölker, die Griechen, die Römer, zu den keuschesten und
ernstesten Symbolen und Mythen umgebildet haben, und aus der sie
die unvergleichliche Gestalt der schaumgeborenen Anadyomene er-
stehen liessen! —
Sehen wir zu!
Wenn wir die »Haberfeldtreiben«, von denen wir hier aus-
gegangen sind, nach ihrer Entstehung rückwärts verfolgen — ich habe
in einer soeben bei S. Fischer, Berlin, erschienenen Schrift »Die Haber-
feldtreiben im bayerischen Gebirge, eine sittengeschichtliche Studie«,
diesen Gang versucht — dann stossen wir auf die ältesten heidnisch-
christlichen Schnittergebräuche bei der Halmernte, besonders bei der
Haberernte, und hier finden wir eine Reihe von Spielen und
Scherzen — ein »Treiben« auf dem Haberfelde — die eine ausge-
sprochene Verhöhnung in Hinsicht geschlechtlicher Dinge, in Hinsicht
des Liebesgenusses zum Inhalt haben: eben jener internationale heid-
nisch-christliche Kern, der im »Haberfeldtreiben« steckt, und zu dem
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 263, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0263.html)