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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 264

Text

264 PANIZZA.

wir oben so viele Parallelbeispiele aus allen Ländern bis in die neueste
Zeit anführen konnten.

Es war nämlich Sitte, dass, sobald der letzte Drischelschlag auf
der Tenne erklungen oder der letzte Halmbock auf dem Aehrenfelde
gebunden, die letzte Garbe gemäht war, derjenige, der den letzten
Schlag gethan, den letzten Sensenhieb geschwungen, zum Gegenstand
von Hänseleien, versteckten Anklagen und beleidigenden Verfolgungen
gemacht wurde, die alle einen stark erotischen, um nicht zu sagen
obscönen Charakter haben und in denen eine directe Verhöhnung und
Beschimpfung jedes Liebeslebens, einerlei, ob legalen oder illegalen,
zum Ausdruck kommt. Es wurde ein Kranz aus Haberstroh gebunden,
ihm, dem Unglücklichen, auf dem Rücken befestigt und er unter Ge-
schrei und Verspottung durchs Dorf geführt oder gejagt. Man sagte,
»er hat die Sau bekommen«. Oft konnte er noch versuchen, den
Schimpf von sich abzulenken, indem er den symbolischen Strohbund
Anderen aufband. In diesem Falle wurde aus Stroh eine kleine Sau
geflochten, sie durch Steine beschwert, damit man sie schleudern
konnte, in die Schleuder noch geschriebene Reimpaare unzüchtigen
Inhalts, welche sich auf die Liebschaften oder das Eheleben Jener
bezog, auf die es gemünzt war, mithineingebunden, oft auch noch das
Kartenblatt, die Herz-, Eichel-, Gras- oder Schellen-Sau mithinein-
versenkt und das Ganze in eine Scheuer geworfen, in der eben noch
die Drescher bei der letzten Arbeit waren. Dies nannte man »die Sau
vertragen«, und es galt als schwere Beschimpfung. Denn auch ohne
die anzüglichen Reime — hier liegt die Genese der Habererverse —
war das pure Hineinwerfen der »Sau« eine insolente Anklage und voll
der schmutzigsten Anspielungen.

Gelang es dem Werfenden, so rasch zu entfliehen, dass er nicht
mehr eingeholt werden konnte — und oft hatte er sich eigens zu
diesem Zweck ein Pferd bereitgestellt — dann hatten die, die Drescher
in der Scheune, »die Sau bekommen« und wurden ihrerseits gehänselt
und ausgelacht. Wurde der Uebelthäter eingeholt, dann ging es ihm
schlimmer als zuvor. Er wurde im Gesicht geschwärzt, mit Unrath be-
strichen, ihm die »Sau« neuerdings auf den Rücken gebunden und er
aufs Neue dem allgemeinen Gespötte preisgegeben. Es war ein Spiel,
ein loses »Treiben«, aber voll böser Hintergedanken und grausamer
Anspielungen. Abends beim Dreschermahl, welches der Bauer besonders
reich anrichtete, kam eine Schüssel mit Krapfen auf den Tisch. Einer
derselben hatte die Gestalt einer Sau. Und eben diesen bekam der
Unglückliche, der schon am Nachmittag hineingefallen war, unter
grossem Geschrei und Halloh der Tischgesellschaft zugesprochen.

Panzer in seinen »Bayerischen Sagen und Bräuchen«, München
1855, Band II, Seite 214—236, konnte noch um die Mitte dieses
Jahrhunderts aus einer grossen Anzahl von schwäbischen, bayerischen
und fränkischen Ortschaften das Fortbestehen dieser Schnitter- und
Dreschergewohnheiten melden. Unter den mannigfachsten Variationen
tritt an Stelle der Sau oft der Bock, der Hahn, die Gais — aber,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 264, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0264.html)