Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 297
Text
Klöppel einer riesigen Thurmglocke hängt. Der Körper schwingt zwischen
dem Balkengerüste, von Thurmfalken umkreist. Zola würde niederknien,
und die Leichenmaler Valdès und Leal würden angesichts dieser ver-
tieften Wirklichkeit ihre Pinsel zerbrechen. Rops war auf seiner Reise
in Spanien in eine einsam gelegene posada gelangt, deren Wirth sich
aus Liebesleid eben erhängt hatte. Niemand wagte es, den Cadaver
vor Eintreffen der Behörden herabzunehmen, so blieb derselbe mehrere
Stunden hängen, während welcher Félicien Rops, stets befürchtend,
dass man ihn störe, eifrigst zeichnete. Als de Coster die Zeichnung
sah, erbat er sie sich für sein Werk, in das er den Vers einfügte:
»Und Charles Quint liess den an den Schlägel der Glocke hängen, der
sie zum Alarm geläutet.« So wie dieses, haben die Mehrzahl der Werke
Félicien Rops’ ihre Vorgeschichte; schon deshalb ist sein Gesammtwerk
das Material eines grossen Bandes.
Félicien Rops hat wohl sämmtliche Ateliers mehr als Neugieriger
denn als Schüler passirt. Von Verfahren und Technik hat er jederzeit
so viel wie irgend ein Künstler verstanden; Jener aber, den Rops
»mon glorieux et vénéré maître« nannte, der grosse Millet, hat ein
Echo in ihm erweckt und in ihm den grossen, von Nachbilderei freien
Fortsetzer gefunden. »La Gardeuse d’abeilles« und »le Bouvier arden-
nais« sind Millet-Werke der Radirkunst. Ein ganz unvergleichliches
Meisterwerk ist »Bout du sillon«. Die junge Bäuerin und der kräftige
Bursch, jedes einen Pflug vor sich führend, begegnen sich, von ihren
Herzen getrieben, am Ende der Ackerfurche; ihre Lippen bewegen sich,
ohne zu sprechen, aber ihre Augen legen Alles in einen Blick, und die
Beiden pressen sich aneinander, mehr als sie sich umarmen, doch
keusch und beinah feierlich. Die Wirkung dieses Bildes ist sofortig,
beim Anblick dieser Gestalten ist man bewegt.
Das Gute und das Böse, Gott und sein Pendant, der Teufel, sind
die zwei synthetischen Facten der Menschheit, die beiden Pole der
freien Willkür; es sind die beiden Urangelpunkte der Metaphysik: der
Mysticismus, der zu Gott erhebt, und die Verderbtheit, die zum Teufel
hinführt. Der Mysticismus ist selten und verborgen; die Verderbtheit
dagegen deckt mit ihren schwarzen Flügeln die Welt; die Modernität
in der Kunst kann also nichts sein als der Ausdruck dieser Verderbt-
heit, die die Basis des Modernen ist. Jemand sagte mit scheinbarer
Unbesonnenheit: »Rops ist die Antithese des Fra Angelico!« Richtig.
Das Entgegengesetzte des Angelischen ist eben das Diabolische, und
Rops, der kein Mystiker ist, ist ein Perverser, ein Verderbter, da er
ja gross und modern ist. Es dürfte überflüssig sein zu betonen, dass
dieses Epitheton nur auf den Künstler, nicht auf den Menschen ge-
münzt ist; kühn dürfte man es auch auf Balzac ausdehnen.
Die jüngste Form des modernen Wortes: der Roman, den Balzac
und Barbey d’Aurevilly zur Höhe des Epos erhoben, hat nur ein Sujet:
die Schilderung der Sünde und der Versuchung, d. h. die Mannigfaltig-
keit der Verderbniss, ihre Ursachen und Folgen. Balzac ist von einer
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 297, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0297.html)