Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 303
Text
aber auch für Europa noch zu gross, es gehört der Mensch-
heit an.
Es ist gleichsam ein dreitheiliges Altarwerk, in dem
die Passionsgeschichte des neuen und doch ewig alten,
tragisch wider Zeit und Geschick ringenden Menschen ver-
kündet wird.
Gesinnung und Pathos des Ganzen drücken sich in der
Mitteltafel aus. Sie ist Geist- und Fleischwerdung jener
leidenschaftlichen Ringerstimmung, die den Künstler selbst
in so hohem Grade charakterisirt. Da reckt sich ein Mensch
zum Himmel hoch, das Knie aufgestemmt — welch ein Knie!
das eines Riesen! — den Kopf herausfordernd zurückge-
worfen und die Arme — Hercules-Arme an Muskeln und
Arbeitskraft! — mit düsterer Entschlossenheit wider die
Brust gekrampft. Das ist der Mensch, der sich dem Schicksal
nicht beugen will. Er kennt den Kampf, seine Härte und
Schonungslosigkeit, von allen Illusionen ist er längst rein
gewaschen, jeglichem Basiliskenblick hat er standgehalten
— und nun kennt er nur den einen Wunsch noch: siegen
oder untergehen!
Der jetzt so verhärtet ist, so übermenschlich-graniten,
er kannte einst die Weichheit des Sich-Sehnens. Da lag er
träumend im Walde, hingeworfen ins schwellende Moos,
umraschelt vom jungen Hoffnungsgrün, von goldener Sonne
übergössen und buntschillernden Verheissungen. So zeigt
ihn uns das erste Bild. Und das letzte? Ein müder Greis,
floh er in die Wüste, sitzt da und kauert, starrt vor sich
hin. Seiner Glieder Blösse ist abgemagert, abgehärmt. Der
Feuerschein des Auges ist erloschen. Hinter kahlem, grau-
braunem Feld geht die Sonne unter, ein glühender Ball.
Dann kommen die kühlen Schauer der Nacht.
Also Kern und Inhalt der Tragödie.
Ein michelangeleskes Ringen spricht sich darin aus,
und michelangelesk ist vielfach auch die Formengebung.
Wer hat je in unseren Zeiten die Natur wieder so ins
Kolossalische zu steigern gewagt wie der kleine Ury diesmal
in seinem grossen Mittelbild?! Dieser Mensch muss ja das
Entsetzen aller Philister sein— und aller Correctheitspedanten!
Aber für die Ungeheuerlichkeit der Leidenschaft, die sich
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 303, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0303.html)