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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 305

Text

DAS NÄCHSTE CONCLAVE.
Von Professor Giuseppe Fiamingo (Rom).
Deutsch von Wilhelm Kraus.

Die zahllosen publicistischen Producte, die gegenwärtig über das
nächste Conclave in die Oeffentlichkeit treten, erscheinen zwar etwas
seltsam, sind aber nicht neu. Auch Pius IX. war in der sonderbaren
Lage, über seinen bevorstehenden Tod und über seinen Nachfolger so
Vieles hören zu müssen; dasselbe geschah bei allen anderen lang-
lebenden Päpsten.

Ich will nicht gerade sagen, dass derlei Broschüren für den noch
lebenden Papst ein schlechtes Augurium sind; jedenfalls bedeuten sie
einen verständlichen Wink, dass er lange genug gelebt hat.

Bei der Papstwahl kommt es stark auf das Alter des Candidaten
an; er soll möglichst betagt sein, denn das Conclave hofft immer,
binnen Kurzem wieder zusammentreten zu können.

Als es sich um die Wahl Leos XIII. handelte, war Joachim
Pecci’s vorgerücktes Alter eines der ausschlaggebendsten Argumente
für seine Candidatur. So bestimmte Cardinal Bartolini, »grande elettore«
bei Pecci’s Wahl die vier spanischen Cardinäle, Franchi’s Candidatur
fallen zu lassen und Pecci ihre Stimme zu geben: Franchi sei zu jung,
mit der Zeit könne auch er hoffen, Papst zu werden, jetzt noch nicht.

Der Papst also, der lange lebt, bereitet namentlich dem heiligen
Collegium eine schmerzliche Enttäuschung! Und Leo XIII. war ein
Greis schon bei seiner Wahl — zudem war er von ziemlich schwäch-
licher Constitution, und allgemein glaubte man, dass diese Asketenseele
nur mehr ganz kurze Zeit in diesem Körper werde weilen können,
der schier durchsichtig und jeglicher Lebenskraft bar schien. Gleich-
wohl hat er der grossen Mehrzahl seiner Wähler an ihrer Bahre den
heiligen Segen gespendet. Man begreift, dass unter solchen Umständen
die Verblüffung des Cardinalcollegiums eine grosse ist.

Und eben diese Enttäuschung, eben diese durch langes Warten
aufs Aeusserste gespannte Ungeduld, sie bricht sich Bahn in der
schwellenden Hochfluth literarischer Producte über das nächste Con-
clave.

Alles, was über das Conclave geschrieben wird, lässt sich in
zwei Kategorien scheiden. Die eine behandelt im Allgemeinen die
Frage, welchen Wünschen und Hoffnungen der neue Papst genugthun
soll; häufig entwickelt sich daraus eine Kritik der gegenwärtigen Lage
des Katholicismus und der Stellung des Papstthums. Jeder dieser Ver-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 305, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0305.html)