Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 306
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fasser hegt die Ueberzeugung, der Papstwechsel müsse alle jene tief-
einschneidenden Reformen im Katholicismus herbeiführen, die dem je-
weiligen religiösen Ideal des Betreffenden entsprechen.
Dagegen bemüht sich die zweite Kategorie, ein Bild der Vor-
arbeiten hinter den Coulissen des Vaticans zu geben. Die Regel ist hier
eine Art Musterung der verschiedenen »papstfähigen« Cardinäle (Car-
dinali Papabili); Einer nach dem Andern wird vorgenommen, mit
seinen Rivalen verglichen und auf seine Chancen geprüft. Da passirt
vor dem Leser eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, die eigentlich
denn doch mit Ehrfurcht erfüllen müssten. Allein der Autor verschont
keinen mit Intriguen und mehr oder weniger gemeinem Klatsch.
Cardinal Bonghi und Monsignore Pappalettere nannten Joachim
Pecci schon mehrere Jahre vor der Wahl den berufenen Nachfolger Pius’ IX.
Aber in dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung figurirten als günstige Fac-
toren nur die Verdienste Pecci’s — und die stehen fest; keinen Platz
fand darin sein unmotivirter und schlecht verhehlter Hass gegen den
Cardinal Antonelli, Staatssecretär unter Pius IX. Dieser Papst war
Pecci nicht gewogen, und die gegenseitige Abneigung wurde durch
Pecci’s Mahn- und Protestschreiben gegen die Politik der Curie in den
letzten Jahren Pius’ IX. nicht gemindert. Bartolini war ein treuer Freund
Pecci’s, er war auch bei dessen Wahl sein »grande elettore«.
Trotz alledem ist Joachim Pecci zeitlebens ein besonnener, milder,
gutherziger Mann geblieben, trotz jedem andern. In der Vertheidigung
der Würde des Papstthums Enthusiast, niemals Fanatiker, ist er, der
Klatschsucht und müssigem Gerede ausgesetzt, ein edler Charakter.
Uebrigens können alle diese Schriften, die uns zu einer Zeit, da
der Papst noch lebt und doch schon ein neuer gewählt wird, in den
Hintergrund des Vaticans führen, sich unmöglich vor dem Odium der
Geschwätzigkeit schützen. Bedenkt man zudem, dass im heiligen Col-
legium doch nur bejahrte Männer sitzen, und dass der Tod eines ein-
zigen Mitgliedes, und hätte es noch so geringe Chancen, genügt, um
ein ganzes Luftschloss scharfsinnig aufgebauter Hypothesen und Combina-
tionen über den Haufen zu werfen, so sieht man, dass alle diese Bücher
nur eine ganz ephemere und sehr nebensächliche Bedeutung haben.
Grösseres Interesse darf die andere Kategorie beanspruchen. Ihre
Autoren unterwerfen die allgemeine Lage des Katholicismus einer ein-
gehenden Prüfung und füllen die Lücken und Löcher in der Welt-
ordnung, die der christkatholische Glaube schliessen sollte, mit dem
Idealbild des künftigen Papstes aus. Zu dieser Gattung zählt auch das
kürzlich erschienene Buch Josephin Péladan’s: »Le prochain conclave«.
Darunter schreibt er »Eine Belehrung für die Cardinäle«, einen Subtitel,
der den Geist des ganzen Buches athmet. Wir finden eine Reihe sehr ernster
Gedanken; um mit seinen eigenen Worten zu sprechen, eine Aufdeckung
der Todeskeime, die sich im kaiserlichen Palast des Pontifex bergen.
Diese Kritik des Katholicismus schliesst mit der Meinung des Ver-
fassers, dass er für das Ideal des Katholicismus das reine Menschen-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 306, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0306.html)