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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 307

Text

DAS NÄCHSTE CONCLAVE. 307

thum halte, und dass er glaube, der neue Papst werde dieses Ideal in
Fleisch und Blut verwandeln.

Péladan ist Romancier und Mystiker, und was mehr ist, er ist
auch gläubiger Katholik. Daraus erklärt es sich, dass er die Gewohn-
heit hat, von der Realität der Thatsachen oft zu abstrahiren, dass er
die Idee für Wirklichkeit hält und so zu immer neuen Hypothesen
und Abstractionen gelangt. Vom hohen Giebel dieses Gebäudes herab
erscheint die Wirklichkeit dann freilich armselig und schal.

So zeigt Péladan’s Kritik an manchen Stellen reichliche Fehler
und Mängel. Aber sie weist noch etwas Anderes auf: das tiefe, re-
ligiöse Bedürfniss einer mystisch veranlagten Seele, ein religiöses Be-
dürfniss von einer bedeutend höheren intellectuellen Entwicklung wie
die, die der Katholicismus bisher befriedigt hat.

Péladan ist nicht der gewöhnliche Mönch, der dem kommenden
Papst und seiner Kirche bessere Zeiten prophezeit. Das Buch wird
viele religiös begeisterungsfähige Seelen erregen.

»Der Katholicismus muss vermenschlicht werden!« Das ist der
Tenor seines Inhalts.

Ist das nun möglich?

Man darf sagen, dass das Ideal von der Macht der katholischen
Religion, das in Leos X. Herzen lebte, ebensowenig den Gang der
socialen Entwicklung beeinflusste wie das Programm Gregors VII.

Gregor VII. verkündete es der Welt, dass die Kirche unabhängig
sein muss von jeder weltlichen Gewalt, »dass sie frei sein muss; dass
es im Ermessen des Papstes steht, seine Priester aus den weltlichen
Banden zu befreien — zwei Lichter erleuchten die Welt: ein grosses,
die Sonne, ein kleines, der Mond. Die apostolische Macht gleicht der
Sonne. Wo der Statthalter Gottes auf Erden Widerstand trifft, und sei
er noch so gross, er muss ihn bekämpfen, er muss stark bleiben, er
muss leiden, wie Christus litt. Verfolgung und Uebermacht dürfen ihn
von der Erfüllung seiner Pflicht nicht abschrecken«.

Ein glänzendes Programm, in der That, fast übermenschlich
gross! Aber vermochte Gregor die Ideale zu verwirklichen, die er als
Pflicht des Statthalters Christi auf Erden proclamirte? Oder hat sie je
ein anderer Papst verwirklicht? — Im Wechsel der Zeitläufte wiederholt
sich stets dasselbe Spiel: In den ersten Zeiten, da die Päpste das
Erbe des allumfassenden Cäsarengeistes der weltbezwingenden Roma
antraten, im waffenklirrenden Mittelalter ebenso wie in jüngstvergan-
genen Tagen, da das heilige Collegium zusammentrat, um Pius dem
Neunten einen Nachfolger zu geben, immer und immer hebt sich die
weltliche Macht über die geistliche empor, immer stärker wird ihr
Uebergewicht, und die flammenden Proteste Pius des Neunten gegen
die Säcularisirung des Kirchenstaates bezeichnen die letzte Phase dieses
Riesenkampfes.

So erweisen sich sämmtliche Reformideen, sämmtliche Programme,
ihres mystischen Schleiers entkleidet, als leere Abstractionen, als blut-
lose Schemen. Unbewusste Kräfte sind es, die den Fortgang der reli-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 307, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0307.html)