Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 308
Text
giösen Entwicklung — mehr noch als der socialen — durch mäliges
Walten als unsichtbare Federn treiben und drängen. Kräfte, die ihren
eigenen Weg gehen und sich nicht darum kümmern, ob dem Leib der
katholischen Religion neue Säfte, neue Lebenskräfte zugeführt werden
oder nicht.
Paul V. lässt den kolossalen Peterstempel in Rom vollenden;
den Tempel, der die ganze Menschheit in seinen Hallen vereinigen
soll. Und mit Riesenlettern kündet er es der Welt, dass dieser Tempel
der Familie Borghese, dass er der Stadt Rom eigne.
Die Cardinäle Mertel und Caterini wollen ihre Stimme bei
der Papstwahl (Leo XIII.) nur dann abgeben, wenn das Conclave in
Rom gehalten wird, weil — sie alt sind und sich den Mühen einer
Reise nicht unterziehen wollen!
Leo XIII. approbirt in seiner Freude über die Sympathien der
französischen Regierung als Bevollmächtigten bei der Curie einen Ex-
communicirten, den Antichrist der Bocche di Rodano, Ponbelle,
den »crocheteur«, wie ihn die französischen Katholiken nennen, die
sich in Folge dessen immer mehr gegen die Politik des Vaticans
sträuben und jetzt feierlichen Einspruch thun in der Wahl von Brest.
Diese kleinen Daten haben bei all ihrer Verschiedenheit einen
gemeinsamen Kern: sie zeigen, wie Papst und Cardinäle eben auch
schwache Menschen sind, nicht imstande, all die Enge und Kraftlosig-
keit zu ersticken, die im Herzen der anderen Menschheit waltet.
Lange Jahrhunderte lebt der Katholicismus, zahllos sind die
Päpste, zahllos die Collegien, die einander ablösen; und das Resultat
solcher tausendjährigen Entwicklung ist, dass Macht und persönliche
Werthung der Curie und des Monarchen im Vatican grösser und
grösser wird.
Anfänglich ist der Papst ein einfacher Bischof, seine Macht über
das engumgrenzte Gebiet seiner Diöcese ist genau so gross wie die
eines beliebigen anderen Bischofs, nur einen kleinen Ehrenvorrang hat
er als Nachfolger Petri; aber es währt nicht lange, so erklärt er sich
für den Stellvertreter Christi, für gottähnlich und unfehlbar!
Diese ganze Fortentwicklung des Christenthums ist also im ge-
wissen Sinne das genaue Widerspiel jener Vermenschlichung, Ver-
allgemeinerung und Transsubstantiation seines ganzen Charakters, welche
die spiritualistischen Katholiken, Péladan an der Spitze, verlangen.
Solche religiöse Ideale entsprechen eben nicht mehr dem Geist
der Zeiten, und die grosse Menge kümmert sich immer weniger darum.
Die katholische Religion ist ja in einer Anzahl von Individuen re-
präsentirt und trägt daher die Last all jener Qualitäten, die diesen
Individuen eignen. Der Geist der Exclusivität und masslosen Herrsch-
sucht, von dem kein Einzelner frei ist, ist daher auch in den Katholi-
cismus gefahren und haftet ihm untrennbar an. Als Leo XIII. an die
englischen Dissidenten den Ruf ergehen liess, in den Schoss der
alleinigen Kirche zurückzukehren, so vermochte er in ihrer Religion
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 308, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0308.html)