Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 311

Die Somnambulen als Lehrer (Prel, Dr. Carl du)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 311

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DIE SOMNAMBULEN ALS LEHRER. 311

weggeschüttet und das Glas mit Essig gewaschen werden. Dieses Ver-
fahren wurde in 15 Sitzungen angewendet und die Kranke geheilt.1)

Es ist nicht nur das Od des menschlichen Körpers, sondern das
in der ganzen Natur, worüber die Somnambulen sich orientirt zeigen.
In allen ihren Verordnungen richten sie sich nach den odischen Quali-
täten der Substanzen, von welchen sie durch ihren sechsten Sinn Kunde
erhalten. Insbesondere ist es das Pflanzenreich, welches sie berück-
sichtigen. Ein Somnambuler Lützelburg’s sagt, nicht in den schauder-
haften Giften der Apotheken liege die wahre Medicin, sondern in den
Pflanzen, wenn diese von Somnambulen auf ihre Eigenschaften und
ihre Zuträglichkeit geprüft seien.2) Eine Somnambule, gefragt, welche
von verschiedenen Weinsorten für ein krankes Kind die beste sei, be-
roch und kostete drei Proben und bestimmte die zuträgliche, wiewohl
sie vielleicht in ihrem ganzen Leben keinen Wein getrunken hatte;
auch wenn man den Wein zu verwechseln suchte, fand sie doch den
richtigen heraus.3) Eine Andere ging mit geschlossenen Augen auf eine
Wiese, nahm Pflanzen auf, und wiewohl sie die Namen derselben nicht
kannte, wusste sie doch von jeder, wofür sie gut sei, indem sie sich
durch Geruch und Geschmack orientirte.4) Anderen, wie der Seherin
von Prevorst, genügt es, die Pflanzen zu befühlen.

Unsere Gelehrten sträuben sich allerdings aufs Aeusserste gegen
die Annahme, es könnte eine ungebildete, schlafende Person mehr
wissen als ein Medicinalrath, der Universitätsstudien und eine lange
Praxis hinter sich hat. Aber um ein abstractes Wissen handelt es sich
gar nicht, sondern um ein intuitives auf Grund wirklicher Empfindungen.
Als schlafend können ferner die Somnambulen überhaupt nicht eigent-
lich bezeichnet werden. Sie schlafen nur äusserlich, d. h. ihr sinnliches
Bewusstsein ist unterdrückt; aber eben weil die gröberen Eindrücke
der Sinne ausgeschaltet sind, umfasst ihr inneres Bewusstsein die
feineren odischen Einwirkungen. Unter diesen Umständen ist ihr intui-
tives Wissen, das sie um eine Stufe höher stellt als uns, nicht nur
möglich, sondern nothwendig. Statt also über den angeblichen Schwindel
der Somnambulen zu spotten, sollten wir sie als unsere Lehrer ansehen,
von denen wir Dinge lernen, die wir nicht selbst erfahren, weil uns
der sechste Sinn fehlt. Sogar die Thiere übertreffen uns ja in ihren In-
stineteu und zeigen sich orientirt, wo wir es durchaus nicht sind.

Indirect kann allerdings ein sechster Sinn dem Besitzer auch ein
theoretisches Wissen verleihen, und so gut sind die Somnambulen in
den odischen Verhältnissen zu Hause, dass sie sogar zu allgemeinen
Theorien darüber sich versteigen. Die Somnambule des Dr. Klein sagt,
das magnetische Fluidum sei durch die ganze Welt verbreitet; es gebe
nur Einen Magnetismus, der im Menschen, in der Erde und im Weltall
wohne, nichts Materielles sei, sondern mit dem Licht des Tages


1) Du Potet: Journal du magnétisme. XVIII. 236. — 2) Exposé de diffé-
rentes cures opéerés depuis 1785. 71. — 3) Archiv V., 3., 86. — 4) Du Potet: Le
Propagateur. I. 215.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 311, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0311.html)