Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 315
Text
Von Karl Kraus (Wien).
Beim Leichenbegängnisse Friedrich Mitterwurzer’s wollten sich
einige Schriftsteller, die unmittelbar hinter dem Sarge schritten, als
Leidtragende einen Namen machen; als sie trotzdem in den Zeitungen
übergangen waren, soll ihre Trauer noch erheblich gestiegen sein.
Aber alle Wiener mussten sich nach Mitterwurzer’s Tode als Hinter-
bliebene fühlen. Die ganze Stadt folgte dem Leichenzuge, Tausende
umstanden das Portal der Augustinerkirche, namentlich die anwesenden
Damen schienen fassungslos, und meine Nachbarin rief immer wieder
schmerzbewegt aus: »Wie schade, dass man den Reimers nicht sehen
kann!« Inzwischen fanden einige ältere Hofschauspieler, die der Ver-
storbene überleben wird, erschütternde Accente, und wieder bewies das
Burgtheater, dass es die besten deutschen Schauspieler besitzt. Bald
darauf versuchte es Herr Director Burkhardt, seinen Schmerz im
fröhlichen Faschingstreiben der zweiten Redoute zu betäuben. Als ihn
ein Domino mit der Frage intriguirte: »Was wird die Zukunft des
Burgtheaters sein?« erbleichte der sonst so fesche Director.
Ueber die Todesursache Mitterwurzer’s waren die verschiedensten
Gerüchte im Umlauf. Klarheit in die Affaire bringt endlich der Bericht-
erstatter eines österreichischen Adelsblattes, welches mir, offenbar zum
Beweise, dass Stylblüthen noch in den höchsten Regionen gedeihen,
dieser Tage zugeschickt ward. Mit einem nassen, einem unfreiwillig
heitern Auge referirt jener über den Tod des Burgschauspielers:
» Und das Entsetzlichste an seinem Hingange ist, dass er
nicht hätte sterben müssen. Er fiel als ein Opfer moderner Chemie.
Die Aerzte erkannten erst bei der Section seines Leichnams, was seine
Krankheit gewesen. Er hatte die Gewohnheit, sich den Mund mit einem
chlorkalihältigen Wasser auszuspülen, und durch eine offene Stelle
des Halses scheint dieses Gift in den Körper gedrungen zu sein, den
es binnen sechs Tagen zersetzte. Man hätte ihn retten können, wenn
man nicht die bequeme Influenza, die heute alles Unerklärliche decken
muss, behandelt hätte. Selbst als er schon todt war, wusste man noch
nicht, was ihm gefehlt hatte, dass er sich, ein vollkommen Gesunder,
den Tod in der Apotheke oder im Parfumerieladen eingekauft hatte,
ohne es zu wollen; unbewusst, schuldlos. Denn einen Selbstmord hätte
dieser Mann auf andere Art verübt, wenn er es hätte thun wollen.
So ist er eine Beute lässiger Gesetze in Bezug auf den
Verkauf medicinischer Mittel geworden.« Der Verfasser
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 315, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0315.html)