Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 345

Text

DIE SOMNAMBULEN ALS LEHRER. 345

Fragestellung. Der Experimentator muss wissen, was er mit einiger
Aussicht auf Erfolg fragen kann und wie er fragen muss. Wer in
den Somnambulen allwissende Wesen sieht und alles Mögliche durch-
einander fragt, wird sehr enttäuscht werden. Die Somnambulen können
vermöge ihres sechsten Sinnes die odischen Verhältnisse der äusseren
Natur und ihres eigenen Inneren beurtheilen, und das muss uns veran-
lassen, bei der Fragestellung uns innerhalb dieser Grenze zu bewegen.
Allerdings hat selbst der Bestbewanderte von uns heute noch keine
Ahnung von der Tragweite des sechsten Sinnes und der Grenze seiner
Verwerthbarkeit, und ich wenigstens bin sicher, dass, wenn ich Ge-
legenheit hätte, mit Somnambulen in systematischer Weise zu experi-
mentiren, merkwürdige Ueberraschungen ebenso häufig wären als arge
Enttäuschungen.

Es kommt sodann noch das Wie der Fragestellung in Betracht,
ja sogar das Wann. Der Somnambule, für die sinnliche Aussenwelt
schlafend, steht in der Regel nur mit dem Magnetiseur in Rapport.
Was ist nun eine von diesem Magnetiseur gestellte Frage? Etwas ganz
Anderes als im Wachen, nämlich eine Suggestion, die den Befehl, zu
antworten, in sich enthält, ohne Rücksicht darauf, ob die Fähigkeit
dazu vorhanden ist. Ausgeführt wird nun dieser Befehl allerdings;
aber wenn der Somnambule die zur Beantwortung nöthigen transscen-
dentalen Fähigkeiten nicht oder noch nicht hat, wird er eben unwill-
kürlich und ohne darum des Schwindels angeklagt werden zu können,
eine Anleihe bei seinen normalen Fähigkeiten machen und antworten,
was ihm gerade durch den Kopf fährt. Es ist das der Suggestion wegen
unvermeidlich und nur die Kehrseite jenes anderen, nach dem gleichen
psychologischen Gesetz eintretenden Phänomens, dass, wenn ein Mensch
unter dem Einfluss einer starken Suggestion oder Autosuggestion steht,
z. B. wenn er die tiefe Sehnsucht nach einem Aufschluss in den Schlaf
hinübernimmt, die normalen Fähigkeiten aber nicht ausreichen, eine
Anleihe bei den transscendentalen Fähigkeiten gemacht wird, was schon
so manchen Wahrtraum veranlasst hat.

Es handelt sich also darum, den richtigen Zeitpunkt für die
Fragestellung zu treffen, und darüber geben den besten Aufschluss die
Somnambulen selbst. Schon Professor Kieser hat gesagt: »Die eigene
Bestimmung der Somnambulen, ob man Fragen an sie richten dürfe
oder nicht, muss uns hier unverbrüchliches Gesetz sein; denn durch
die hellsehende Somnambule entscheidet nicht mehr der von Launen
regierte Mensch, sondern die ewige Natur«.1) Auch in dieser Hinsicht
haben sich die Somnambulen als Lehrer erwiesen und auf die Fehler-
quellen aufmerksam gemacht. Eine Somnambule, die sich sonst gut
bewährte, machte doch oft, wenn sie auf ihr Fernsehen geprüft wurde,
ganz irrige Aussagen in Bezug auf Orte und Menschen. Im Schlaf
schrieb sie dann solche Misserfolge immer dem Misstrauen und dem
Leichtsinn zu, womit die Fragen an sie gestellt wurden.2) Eine junge,


1) Archiv II., 2, 97. — 2) Archiv II., 2, 20.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 345, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0345.html)