Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 346
Die Somnambulen als Lehrer (Prel, Dr. Carl du)
Text
ungebildete Somnambule in Rastadt dictirte im Schlaf eine Theorie
und Instruction über den animalischen Magnetismus, die sehr lesens-
werth ist und worin sie tadelt, dass die Magnetiseure häufig nur
darauf hinarbeiten, ihre Somnambulen zum Sprechen zu bringen und
es durch ihren Willen in der That erzwingen, aber sich auch nicht
schmeicheln dürfen, Hellsehende gemacht haben; statt sie vorwärts
zu bringen, bringen sie sie zurück. Auch gibt sie schon 1787 den
Rath, den später alle guten Magnetiseure befolgt haben, den Somnam-
bulen nie zu sagen, dass sie im Schlafe gesprochen haben, sie müssten
es denn selbst verlangen.1) Es ist eine bekannte Erfahrung, dass die
beiden Zustände, Somnambulismus und Wachsein, möglichst getrennt
gehalten werden sollen, weil sonst nur eine unreine Mischung beider
zustande kommt und der Somnambule für beide Zustände untauglich
wird. Als Regel kann man es betrachten, dass die spontan gemachten
Aeusserungen der Somnambulen die verlässigsten sind; aber diese Er-
fahrung ist vielleicht nur gemacht worden, weil es so wenig Experimen-
tatoren gibt, welche wissen, was, wie und wann gefragt werden soll.
Häufig sind schon Somnambulen von Gelehrtencommissionen ge-
prüft worden. Aus den bezüglichen Berichten kann man sehr viel
darüber lernen, wie es nicht gemacht werden soll. Eine solche
Commission begab sich einst zu einer Somnambulen, liess dieselbe
einschläfern und begann dann die Prüfung, bei welcher die Somnam-
bule ganz und gar nicht bestand. Die Herren gingen nach Hause,
mehr als je überzeugt, dass nur Schwindel vorliege, der ihrer Gelehr-
samkeit gegenüber natürlich nicht habe Stand halten können. Die
Somnambule aber ist es, welche in einem späteren Schlaf die richtige
Erklärung gab: »Warum habe ich denn an den Tagen der Untersuchung
nichts gewusst? Die Herren hätten kommen sollen, wie ich schon
schlief, so hätte ich mich nicht erschrocken.« 2)
Die Zweifler, wenn sie von medicinischen Rathschlägen der
Somnambulen hören, sagen noch heute, das sei besten Falles eine Art
Bauchrednerei des Magnetiseurs. Gewiss, das ist häufig der Fall —
wenn man nämlich nicht weiss, wie und wann man fragen soll;
aber eine Somnambule ist es wieder, die zuerst auf diese Fehlerquelle
aufmerksam gemacht hat und sagt, viele Verordnungen seien nur eine
Gedankenübertragung des Arztes und eine Art Reflex des Wissens des
Magnetiseurs.3)
Wir müssen nunmehr die philosophischen Folgerungen ziehen, die
sich aus den bisher erwähnten Thatsachen ergeben. In der modernen
Wissenschaft gilt das Axiom, dass nichts im Verstande liegt, was nicht
vorher in den Sinnen gelegen wäre. Es gibt keine Erkenntniss a priori,
keine angebornen Ideen, sondern nur Erkenntniss aus der Erfahrung,
a posteriori. Nun hat sich aber gezeigt, dass die Somnambulen ohne
jede vorherige Erfahrung des sinnlichen Bewusstseins orientirt sind
1) Du Potet: Le Propagateur 204—214. — 2) Archiv VII., 3, 110.
3) Archiv IX., 2, 266.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 346, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0346.html)