Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 347
Die Somnambulen als Lehrer (Prel, Dr. Carl du)
Text
über die odischen Verhältnisse der Natur, ihres eigenen Inneren und
die Wechselwirkung beider, und zwar so gut orientirt, dass sie Ein-
sichten zeigen, die von der Wissenschaft erst viel später erreicht
wurden, was uns sehr geneigt machen muss, auch bezüglich der anderen
Einsichten die künftige Bestätigung durch die Wissenschaft zu erwarten.
Diese Einsichten sind also entweder angeborene Ideen, Erkenntnisse
a priori oder, wenn sie doch aposteriorisch sein, d. h. aus der Er-
fahrung gewonnen sein sollten, so müssen es Erfahrungen eines sechsten
Sinnes sein. Dagegen steht es unwiderleglich fest, dass der Träger
dieser Erkenntnisse von der körperlichen Erscheinung des Menschen
unabhängig ist, denn unsere normalen Sinne und das sinnliche Bewusst-
sein sind im Somnambulismus unterdrückt; sie können also solche Er-
kenntnisse nicht liefern. Weil aber dieses auch von der ganzen Ahnen-
reihe des Somnambulen gilt, so können ihm auch auf dem Wege der
physiologischen Erblichkeit solche Erkenntnisse nicht zugekommen sein.
Das Problem kann demnach nur im Sinne des Occultismus gelöst
werden: wir müssen eine Doppelheit unseres Wesens annehmen, das
mit seinem materiellen Körper in die sinnliche Welt eingegliedert ist,
mit seiner odischen Wesenheit aber in die unsinnliche, odische Welt.
Das Verhältniss dieser beiden Wesenheiten zu einander wird aber
durch die Thatsache erklärt, dass die Somnambulen auch in Bezug
auf ihre irdische Hülle, den materiellen Leib, sich orientirt zeigen und
ihre innere Selbstschau vornehmen, welche Durchleuchtung des Körpers
jetzt nicht mehr als unmöglich angesehen werden kann, seitdem sie
nun auch durch die Röntgen-Strahlen vorgenommen wird, so dass also
auch in diesem Punkte eine seit hundert Jahren bekannte Thatsache
des Somnambulismus nun durch die Wissenschaft bestätigt wird.
Nun sehen wir aber aus den Wirkungen des animalischen Magne-
tismus, dass das Od sogar, wenn wir es auf einen fremden Körper
übertragen, Träger der Lebenskraft ist; also muss es auch in unserem
eigenen Körper das belebende und organisirende Princip sein, d. h.
die Frage nach dem Verhältniss unserer beiden Wesenshälften ist
dahin zu beantworten, dass der materielle Leib nach dem Schema
eines odischen Leibes gestaltet ist, der in der ganzen Mystik aller
Zeiten und Völker als Aetherleib oder Astralleib vorkommt und von
dem auch unsere Somnambulen zu reden wissen. Der Astralleib mit
seinem transscendentalen Bewusstsein, dies also ist die nähere Defini-
tion dessen, was gemeinhin Seele genannt wird.
So begreift es sich aber auch, dass den Somnambulen, die sich
im Besitze eines anderen als des sinnlichen Bewusstseins wissen, und
welche die Trennbarkeit des Astralleibes vom materiellen Leib aus
Erfahrung kennen, so dass sie ihren irdischen Menschen objectiv vor
sich sehen, sich von ihm unterscheiden und von ihm in der dritten
Person reden, auch zu metaphysischen Einsichten befähigt sind. Es
gibt keinen tieferen Somnambulen, der nicht — und wäre es im Gegen-
satz zu seiner Tagesansicht — im Schlaf die Ueberzeugung der Un-
sterblichkeit hätte. Die somnambule Frau U. beschäftigte sich vorzugs-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 347, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0347.html)