Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 393
Text
zweifeln. Die anatomische Behandlung des Körpers zeugt von be-
deutendem Können. —
Die Malerei schwelgt wieder in ihren geläufigen Ausdrucksmitteln.
Sie fühlt sich als Selbstzweck und entschlägt sich ihrer erziehlichen
Aufgabe. So löst sie ihre Gedanken und Empfindungen in Farben auf
und gestaltet sie in Linien, lässt aber eine dabei vermissen — die
emporführende. Und auch jene Wenigen, die ein starkes Wollen
beseelt, sind meist formelle Temperamente, Reformatoren des Aus-
drucks. Sie legen in die originelle und eigenartige Gestaltung des
Aeusserlichen die conventionelle Seele. Das ist der Typus der Wiener
Kunst. Mit ihr mag man sich auseinandersetzen. Der einzelne Künstler
hat für manches Ehrliche im Wollen und manches Starke im Können
Anspruch auf Anerkennung. Culturen schlagen im Einzelnen Wurzel,
um die Menge zu erziehen; man kann sie an der Gesammtheit ver-
missen, ohne aber die Einzelnen zu ihnen erziehen zu können.
Im Porträt steht Leop. Horovitz obenan. Seine feine Art,
seine nicht kühne, aber elegante Technik berühren sympathisch. Die
gedämpfte Durchseelung des Modells und die discrete Betonung des
Typischen haben etwas ungemein Anziehendes. Sein Kaiserbild weist
diese Vorzüge auf. Das Porträt der Gräfin Potocka ist das geist-
reichste Frauenbildnis, das wir seit Jahren im Künstlerhause gesehen.
Gleich neben Horowitz ist Max Koner zu nennen, dessen Porträt
des Professors Curtius besondere Beachtung verdient. Marie Rosen-
thal hat drei Porträtstücke ausgestellt, das beste ist das des Ober-
landesgerichtsrathes Gernerth, das schwächste das der Gräfin Kinsky-
Dubsky. Fräulein Rosenthal zeigt die Spuren einer sich kräftig aus
Pochwalski’schem Banne emporringenden Individualität. Möchte ihr
eine volle Emancipation gelingen.
Pochwalski selbst wird alljährlich uninteressanter. Man ge-
winnt die Ueberzeugung, dass er über sein Können, das ein vornehm-
lich äusserliches ist, zu täuschen wusste. Sehr flott in Zeichnung und
Farbe ist ein überaus charakteristisches Herrenporträt von Konopa.
Das beste ernste Genrebild der Ausstellung hat Umberto Veruda
zum Schöpfer. Es hängt natürlich ziemlich schlecht in einer Ecke oben.
Aber der ernste Accord der Stimmungen, die ausserordentliche Kraft
und innere Gedrängtheit der Episode überraschen. Dabei sind wunder-
volle coloristische Feinheiten in dem Werke. Der Scheitel des vor dem
Sarge seiner Frau niedergesunkenen alten Mannes und die schmerzlich
verschlungenen Hände sind die hellsten Partien im Bilde, die im
Farbenton überaus fein gegen die violetten Schwertlilien am Sarge ab-
gestimmt sind. Man wird das Schaffen dieses ernsten Künstlers im
Auge behalten müssen. Wundervoll ist George Hitchcock’s »Die
Verkündigung«: Eine Nonne steht zwischen hochaufragenden Lilien.
Das Antlitz sieht aus dem Bilde heraus mit starrem, träumerischem
Gesichtsausdruck. Eine tiefe Elegie, eine herbe Entsagung liegt über
den Zügen. Die Farbentöne, das Violenblass des Nonnenkleides, die
weissen Lilien im grünen Felde sind überaus fein zusammen gestimmt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 393, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0393.html)