Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 406

Der Freund der Logik (Leblanc, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 406

Text

406 LEBLANC.

ja sehen! Und was für eine Stirne! Im Bewusstsein meiner voll-
kommenen Kahlköpfigkeit dachte ich mir:

»Er kann sich unmöglich dieses glänzende Ding erklären, das
geradeso schimmert wie der Rücken einer Schildkröte.«

Wie lang es dauerte! Man glaubt sonst, dass alle Secunden gleich
lang währen. Ah! Ich sage Ihnen, es gab da Secunden, welche zu lange,
viel zu lange dauerten. Ich bemerkte es übrigens an der Pendeluhr,
deren Geräusch sich verlangsamte, unmerklich, je mehr ich vorrückte.

Die Uhr schlug. Meine Wimper zuckte unwillkürlich. Ich wartete
auf den Moment, wo die Uhr aufhören würde, zu schlagen. Ich zählte
dreizehn Schläge, ja, dreizehn, ich bin fest davon überzeugt.

Ich katte keine Zeit, darüber in Erstaunen zu gerathen, denn
gerade beim dreizehnten Schlag überschaute mein Auge das linke Feld
des Zimmers und traf sofort den Blick seiner beiden Augen.

Er lag acht Schritte vor mir in einem Fauteuil, die Arme unbe-
weglich auf der Lehne, und fixirte mich. So sahen wir uns denn an.

Ich hatte im Geiste vorhergeahnt, dass er noch sehr jung und
auffallend schön sein müsse. In Wahrheit aber sah ich nichts als seine
Augen. Sie erschreckten mich, nicht so sehr weil sie einem lebenden
Wesen gehörten, das imstande war, sich zu vertheidigen, als durch das
Entsetzen, das sie verriethen. Und ich fragte mich, wer von uns Beiden
vor den Augen des Anderen wohl grössere Furcht hatte, ich vor den
seinen oder er vor den meinen. Ich sagte mir: »Ich vor den seinen,«
denn diese blieben halb im Dunkeln und hatten daher den natürlicheren
Ausdruck. Das musste mir selbstverständlich eine untergeordnetere
Stellung im Kampfe geben. Und zudem erschien mir meine Situation
lächerlich. (Ich habe immer die komische Seite von Situationen heraus-
gefunden.) Sah es nicht aus, als spielten wir zusammen Versteckens?
Ich hatte geradezu Lust, ihm »Guck guck« zuzurufen.

So entschloss ich mich denn, fortzugehen. Aber plötzlich bemerkte
ich seine Hände. Die armen, sie zitterten wie kleine Vögel, denen kalt
ist. Und als ich näher zusah, nahm ich wahr, wie sein ganzer Körper
gleicherweise bebte.

Ich verlor alle Furcht und trat ein.

Ich machte dreist sieben Schritte und blieb dann stehen; er rührte
sich nicht. Ich hätte ihn berühren können. Und trotzdem schlug mein
Herz, wie wenn eine Glocke in meiner Brust erzittert wäre. Und ich
hörte sein Herz schlagen. Oh, der Unglückliche, sein armes Herz
es schüttelte ihn, wie die Schläge der grossen Glocke die Steine des
Thurmes lockern.

Wie kann man vor einem solchen Hasenherz nur Furcht haben?
Ich werde ganz ruhig, sogar ein wenig spöttisch. Und es war wirklich
mehr Hohn als ernsthafte Absicht, als ich meinen Revolver spannte.

Der Unglückliche wollte aus Leibeskräften schreien, sich rühren.
Doch ich fürchtete nichts. Augenscheinlich schnürte es wie ein eiserner
Schraubstock seine Kehle zusammen, und jedes seiner Glieder war vom
Schreck wie gelähmt. Seine Hände allein fuhren fort zu zittern.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 406, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0406.html)