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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 522

Text

522 NANSEN.

Nerven als steuerzahlender Bürger in dem Grade vor Er-
bitterung erzittern macht, als wenn ich so einem gewöhn-
lichen Kerl von Schutzmann, dessen Benehmen ich nicht
nach Verdienst massregeln kann, ohne Gefahr zu laufen, auf
die Polizeistation gebracht zu werden, machtlos gegenüber-
stehe. Ich glaube denn auch, dass ich kühn behaupten kann,
meine Rolle gut gespielt zu haben. Ich konnte es Ihnen an-
sehen, dass Sie mir glaubten.

Heute nun ist es meine Pflicht, Ihnen die wahre Er-
klärung zu geben, sowohl für meine Verstimmtheit bei der
besagten Gelegenheit, wie auch für den abnehmenden Eifer,
Ihre liebenswürdige Gesellschaft zu geniessen, den Sie trotz
meines standhaften Widerspruchs im Laufe dieser letzten
Monate wiederholt constatirt haben.

Liebe Freundin, deren vorurtheilsfreies Verständniss ich
zu bewundern so oft Gelegenheit gehabt habe, Sie, die Sie
so überlegen sind in der Beurtheilung der Menschen und des
menschlichen Treibens, Sie, die Sie mir so viele unvergess-
liche Stunden geschenkt haben, ohne die kleinliche Berech-
nung, mich dadurch auf ewige Zeiten zu verpflichten, wie Sie
mich auch niemals mit der Hoffnung zu täuschen versuchten,
dass Ihre Zuneigung mir als Erb und Eigenthum geschenkt
sei, Sie werden vielleicht einen Augenblick lang ein klein
wenig Wehmuth über das empfinden, was ich Ihnen jetzt mit-
zutheilen habe, Sie werden vielleicht — ich bin so egoistisch,
es zu hoffen — meinen Brief mit einer Thräne netzen (auch
meine Augen bethauen sich, während ich dies schreibe), aber
Sie werden genügend Rechtschaffenheit und Charakterstärke
sowie Hingebung für mich besitzen, um zu sagen: »Es musste
ja einmal so kommen, früher oder später! Und es ist wohl
das Beste für uns beide, dass es jetzt kommt.«

Was Sie, liebe Freundin, in diesen anderthalb, ja bei-
nahe zwei Jahren für mich gewesen sind, brauche ich nicht
zu sagen. Sie sind für mich die Erquickung und die Be-
ruhigung gewesen, ohne die ich, müde und enttäuscht, wie
ich war, als ich Ihre treue Bekanntschaft machte, das Leben
kaum zu leben werth gefunden hätte. Wenn ich an Sie
denke, so erscheinen Sie mir wie eine barmherzige Schwester.
Sie fanden mich verwundet und übel zugerichtet auf dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 522, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0522.html)