Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 524
Text
kleinen Schmuck begleite, den wir neulich gemeinsam be-
wunderten, als wir aus dem Theater kamen.
Indem ich die edlen Steine um Ihren blendenden Nacken
schlinge, winde ich zu Ihrem Andenken einen Kranz aus
Lächeln und Thränen, dem Lächeln unseres Zusammenlebens,
den Thränen unserer Trennung.
Ihr stets getreuer
Freund.
Lieber Freund!
Ihr Brief hat mich sehr gerührt. Ich verstehe, was es
Sie gekostet hat, ihn zu schreiben. Ich schätze zehnfach die
Ehrlichkeit, die Ihnen nicht gestattete, zu schweigen. Und
ich kenne Ihr edles Herz hinreichend, um zu wissen, dass
Sie auch Werth auf Offenheit von meiner Seite legen
werden.
Es würde feige von mir sein, wenn ich nicht Gleiches
mit Gleichem vergelten wollte. Umsomehr, als Sie in
Ihrem Briefe etwas berühren, was mich lange gequält hat.
Sie erwähnen jenes Abends, an dem ich Sie besorgt fragte,
ob Sie sich nicht wohl fühlten. Und Sie erzählten halb
scherzend, halb wehmüthig Ihre sinnreich erfundene Fabel
von dem Droschkenkutscher und dem Schutzmann.
Wohlan, lieber Freund, lassen Sie mich Ihnen gestehen,
dass der Grund, weswegen ich Sie fragte, ob Ihnen etwas
fehle, der war, dass zwei Minuten, ehe Sie zu mir kamen,
der Mann, den ich in vierzehn Tagen heiraten werde,
der steinreiche Banquier H., mich verlassen hatte. Ich
fürchtete, dass Sie ihm auf der Treppe begegnet seien, und
dass dies der Grund zu Ihrer Verstimmtheit sei.
Mein lieber Freund, Ihr künftiger Schwiegervater, mein
zukünftiger Gatte, ist ein so hochherziger Mann, und sein
Vermögen ist so enorm, dass Niemand von uns Furcht zu
hegen braucht.
Ich meine, es wird am besten, sowohl mit Ihren wie
mit meinen Gefühlen und Interessen übereinstimmen, wenn
ich nicht auf Ihrer Hochzeit erscheine.
Während Sie und Ihre junge Frau ihre Flitterwochen
in Italien verleben, lassen Ihr Schwiegervater und ich in
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 524, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0524.html)