Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 534
Text
das Treiben der Schüler nicht und ging jeden Augenblick zum Fenster.
Er sah die Strasse von der Sonne hell erleuchtet Ueber den Häusern
der durchsichtige blaue Himmel, Vögel und weit, weit hinter den
grünen Gärten und den Häusern die unendliche, weite Ferne mit den
bläulichen Wäldern und den aufsteigenden Rauchwölkchen vom Eisen-
bahnzug
Da gehen im Schatten der Akazien zwei Officiere in weissen
Uniformen, mit Reitgerten die Strasse entlang Da fahren in
einem Omnibus eine Menge graubärtiger Juden in Mützen Eine
Gouvernante spaziert mit der Enkelin des Directors Som läuft mit
zwei Hofhunden irgend wohin Und da geht Warja vorbei in einem
einfachen grauen Kleidchen und rothen Strümpfen, den »Wjestnik
Ewropp« in der Hand haltend. Sie war wahrscheinlich in der städti-
schen Bibliothek
Die Stunden sind nicht so bald zu Ende — um 3 Uhr! Dann
kann er nicht so nach Hause oder zu Schelestoff’s gehen, sondern
muss zu Wolf zur Stunde. Dieser Wolf, ein reicher Jude, der lutherisch
geworden war, schickte seine Kinder nicht ins Gymnasium, sondern
liess sie von Gymnasiallehrern zu Hause unterrichten und zahlte 5 Rubel
die Stunde
»Langweilig, langweilig, langweilig!«
Um 3 Uhr ging er zu Wolf und sass dort eine ganze Ewigkeit,
wie es ihm schien. Er ging da um 5 Uhr fort, nach 6 musste er
wieder ins Gymnasium zu einer Sitzung des Schulausschusses — um
die Eintheilung der Examina für die vierte und sechste Classe fest-
zustellen!
Als er, spät Abends, aus dem Gymnasium zu Schelestoff schritt,
klopfte ihm das Herz und sein Gesicht glühte. Eine Woche und einen
Monat lang bereitete er jedesmal, als er sich erklären wollte, eine
ganze Rede mit Vor- und Nachworten vor, heute hatte er kein einziges
Wort in Bereitschaft, in seinem Kopf ging Alles durcheinander, und er
wusste nur, dass er heute ganz bestimmt Alles sagen würde und dass
keine Möglichkeit war, noch länger zu warten.
»Ich werde sie in den Garten bitten,« nahm er sich vor, »werde
mit ihr ein wenig spazieren gehen und mich dann erklären.«
Im Vorzimmer war keine lebendige Seele; Nikitin ging in den
Salon, dann ins Wohnzimmer Hier war auch Niemand zu sehen.
Man hörte Warja im zweiten Stock mit Jemandem streiten und die
Hausschneiderin im Kinderzimmer mit der Scheere klappern.
Es gab im Hause ein Zimmerchen, das drei Benennungen hatte:
das kleine, das dunkle und das Durchgangszimmer Hier stand ein
grosser alter Schrank mit Arzneien, Schiesspulver und Jagdutensilien.
Von da führte zum zweiten Stockwerk eine schmale Holztreppe, auf
der immer die Katzen schliefen. Von der Treppe aus ging eine Thür
ins Kinderzimmer, die andere ins Wohnzimmer. Als Nikitin hier ein-
trat, um hinauf zu gehen, öffnete sich die Thür des Kinderzimmers
und wurde so heftig zurückgeschleudert, dass der Schrank und die
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 534, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0534.html)