Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 567

Ihr letzter Ball (Auernheimer, Raoul)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 567

Text

IHR LETZTER BALL. 567

»Ach!« seufzte die schöne Frau mit Märtyrermiene.

Und durchaus noch nicht gewonnen, schritt sie in ihr Zimmer.
Sie nahm ein schönes Buch zur Hand, schlug es auf und trat vor den
Spiegel. Hierauf bemühte sie sich, den sinnenden Ausdruck, den sie
beim Lesen eines Buches zur Schau trug, im Spiegel zu beobachten.
Leider gelang ihr das nicht; denn wie sinnend sie auch in das Buch
blicken mochte, wenn sie aufsah und in den Spiegel schaute, war der
sinnende Ausdruck beim Teufel.

Sodann liess sie sich auf die Chaiselongue gleiten und begann
mit gespannter Aufmerksamkeit zu lesen. Und als sie das drittemal
umblätterte, da stand es in ihrer Seele fest, dass sie ein weisses Moiré-
kleid nehmen würde mit einem viereckigen Ausschnitt, und an der
Schulter ein paar helle Rosen. Als sie aber das Capitel beendet hatte,
war in ihr die Ueberzeugung gereift, dass diese Toilette die geschmack-
vollste sein werde auf dem Balle. Und vielleicht wird gar der Ball-
bericht in dem reizenden Damenflor auch ihren Namen nennen!
Sie athmete tief auf, ihr schwindelte, ihr kleines Herz pochte.

Der Anfang des Balles war auf neun Uhr festgesetzt; aber gleich
wie ein ganz junges Mädchen, das auf ihren ersten Ball zu gehen sich
anschickt, hatte die schöne Frau schon lange vor der Zeit ihre Toilette
beendet. Und nun stand sie vor dem Spiegel und schaute ihr be-
rückendes Bild mit dem reizenden Puppenlächeln, das sie gleichzeitig
mit dem neuen Ballkleide angezogen hatte.

»Entzückend!« rief das Fräulein und übersetzte gewohnheits-
gemäss: »Ravissant!«

»Ja,« sagte die schöne Frau gleichgiltig kalt, »der Moiré ist
sehr hübsch.«

Dann kamen die Kinder mit grossen, erstaunten Augen, und sie
schauten halb scheu, halb verwundert.

Plötzlich erschien nun auch Papa, im Frack, mit einer fürchter-
lichen Miene. Wüthend nestelte er an der Cravate, zerrte er an
den Manchetten. Schliesslich packte er mit wildem Griff den Claque
und liess ihn mit jähem Knall aufspringen.

Sodann schaute Herr Friedhart ein wenig befriedigter um sich.
Er hätte den Claque auch schon in seinem Zimmer aufschnellen lassen
können. Aber mit Absicht hatte er ihn hieher gebracht, um seinem
Aerger ein wenig Ausdruck zu geben.

Mama küsste heute ihre Kinder vor dem Schlafengehen nicht,
denn sie fürchtete für das Fischbein vor ihrem Herzen und für den
Puder auf ihren Wangen.

Langsam stieg die schöne Frau über die teppichbespannte Treppe
hinunter, und ihr verdriesslich ernstes Gesichtchen sprach deutlich von
der lästigen Gesellschaftspflicht, die zu erfüllen sie sich anschickte.

Als sie aber in der dunkeln Ecke des Wagens sass, und Niemand
sie sehen konnte, da schaute sie mit leuchtenden Augen hinaus in die
geheimnissvolle Winternacht und lächelte das reizende Lächeln ihrer
letzten fünfzehn Jahre.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 567, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0567.html)