Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 592
Die magische Vertiefung der modernen Naturwissenschaft (Du Prel, Dr. Carl)
Text
Bei Nux vomica trat nach dem Erwachen Erbrechen ein. Atropin
erzeugte Schlucksen und Erweiterung der Pupille. Auch in das psychische
Leben greifen solche Einwirkungen ein. Kanthariden erzeugen verliebte
Hallucinationen, Laurocerasus religiöse Ekstase und Visionen, die bei
der Anwendung von Alkohol wieder verschwinden; die Versuchs-
person sieht sich nun in der Wüste und fürchtet sich vor wilden
Thieren. Man legt ihr Ammoniak auf, und nun ist sie auf dem Meere.
Gewöhnliches Wasser in einem versiegelten Fläschchen erzeugt die
Symptome der Wasserscheu, Wurzel von Valeriana den Wahn, eine
Katze zu sein; die Versuchsperson läuft auf allen Vieren herum, unter
das Bett, den Tisch, spielt mit beweglichen Gegenständen und macht einen
hohen Rücken, wenn man vor ihr bellt. Eine Anarchistin und Atheistin,
dem Versuch mit Lorbeer unterworfen, zeigte religiöse Gesinnungen.
Gewöhnlich reichen ein paar Minuten hin, die Symptome herbei-
zuführen, die meistens auch nur so lange anhalten, als die Application
stattfindet. Bei empfänglicheren Personen dauert die Wirkung Stunden
und Tage. Bei Hemianästhesie zeigt sich kein Unterschied, ob die Auf-
legung auf die sensiblen oder nichtsensiblen Theile geschieht. Manche
Personen zeigen sich auch im Wachen empfänglich.1)
Solche Einwirkungen nun können nur odischer Natur sein, und
weil darin die chemischen Eigenthümlichkeiten gewahrt sind, müssen
diese schon in der tieferen odischen Region vorbereitet liegen. Es soll
nicht geleugnet werden, dass bei solchen Versuchen mit hypersensitiven
Personen die blosse Suggestion eine Rolle spielen kann; ja es ist vor-
gekommen, dass bei der Anwendung von Eucalyptus Purgiren eintrat,
weil der Experimentator der irrthümlichen Meinung war, eine purgirende
Substanz aufgelegt zu haben. In der Regel war aber bei diesen Ver-
suchen die Suggestion schon darum ausgeschaltet, weil die Arznei-
fläschchen von einer nicht anwesenden Person hergerichtet, nicht be-
zeichnet und nur mit Nummern versehen waren, während der Experi-
mentator die Versuchsperson und die Anwesenden den Inhalt der
Fläschchen gar nicht kannten. Gleichwohl traten die specifischen Wir-
kungen der Substanzen ein. Es handelt sich also um objective Er-
scheinungen, und die Medicin wird noch ihren Nutzen aus dieser Ent-
deckung ziehen, die den Glauben an die homöopathischen Hoch-
potenzen bestätigt, ja darauf hindeutet, dass die medicinische Pharmako-
chemie durch eine Pharmakodynamik abgelöst werden könnte. Weil
nun aber der Einwurf der Suggestion, trotzdem ihm der Boden ent-
zogen ist, doch immer wiederholt wird, möchte ich für künftige Ver-
suche vorschlagen, die odische Stadiation der Medicamente nicht direct
mit der odischen Atmosphäre der Versuchspersonen zu vermischen,
sondern mit deren exteriorisirtem Od. Man lasse ein Glas Wasser durch
die Versuchsperson magnetisiren und tauche in einem entfernten Zimmer
die Fläschchen mit den Medicamenten in das Wasser ein.
1) Bourru et Burot: »La suggestion mentale et l’action à distance des sub-
stances médicamenteuses.« — Luys: »Les émotions dans l’état d’hypnotisme et
l’action à distance des substances médicamenteuses.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 592, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0592.html)