Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 668

Zur Charakteristik Stanislaw Przybyszewski’s (Neumann, Alfred)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 668

Text

668 NEUMANN.

surrogaten und noch schwächlicherer Phantasie zusammengeleimten
Träume spinnen.

Ich hasse über Alles die rührseligen Mitleidsergüsse, hasse Alles,
was sich nicht rächen kann, was nicht Zerstörungskraft in sich hat.

Ich hasse alle Tendenz, alle Harmonie, alle behäbige Zufriedenheit,
das Alles hasse ich, weil ich die Menschen liebe, die nur durch Chaos,
Zerstörung, Qual und Zügellosigkeit vorwärts kommen «

Man bekommt sie wirklich entsetzlich satt, unsere Romane von
Heyse und Spielhagen mit dem stereotypen Milieu von Grafen und
interessanten Hofmeistern, Schlossleben und Hinterhaus, Verlobung,
süssem Familienleben und obligatem Hörnerschmuck des Gatten, wenn
man Przybyszewski’s rein psychologische, im düsteren Reiche der Seele
spielende Arbeiten gelesen hat.

Es ist nur berechtigter Stolz, nicht Unbescheidenheit, wenn er
von sich sagt: »Ich habe kein Wort geschrieben, das nicht aus der
Seele des Betreffenden, der das Buch trägt, gekommen wäre. Man wird
nicht ein einzigesmal finden, dass ich persönliche Bemerkungen über
meine »Helden« machen würde. Ich schildere nicht; ich lasse sie
leiden, sprechen, sehen, ohne dass ich irgendwie Stellung nähme.
Kommt eine Schilderung vor, so dient sie nur dazu, die Stimmung zu
kennzeichnen, in der sich der Betreffende befindet; dann aber ist sie
erlebt, in der Seele des Handelnden erlebt. Bis jetzt hat jeder Roman-
schriftsteller den Unfug begangen, persönlich in die Handlung einzu-
greifen. Bei jeder Gelegenheit sagt er: Das hat er gut, das hat er
schlecht gemacht, der war ein Schurke, dieser da ein edler Mensch.
Jede Person, die auftrat, wurde zuerst eingehend beschrieben (man
nannte das »charakterisirt«), dann wurde ihr Lebenslauf erzählt, ihr
Zimmer geschildert etc. etc. So hat der Romanschriftsteller vor mir
die Phantasie des Lesers von vorneherein bestimmt, er hat ihr den
Maulkorb angelegt und den Weg gezeigt, welchen sie gehen soll. Er
hat ihr nicht den geringsten Spielraum gelassen; Alles wurde gesagt,
der Leser wusste, die Handlung gehe in dem und dem Jahre, in der
und der Stadt vor sich; der Mensch sah so und so aus, er war dort
und dort in der Schule, er hatte diese und jene Charaktereigen-
schaften etc. Der Dichter also hatte von vorneherein den Leser in
infamster Weise vergewaltigt!

Bei mir kein Wort von der Vergangenheit; nur zufällig erfährt
man aus dem Gespräch durch eine kleine Bemerkung Einiges über das
frühere Leben, über die Aeusserlichkeiten. Man weiss nicht genau, wo
sich meine Personen befinden, wer sie sind, woher sie kommen. Denn
alles das ist nur wichtig für dumme Weiber, die ins Bad reisen und
Lectüre haben wollen, wichtig für den Börsenjobber, der sich in der
Stadtbahn nicht langweilen will, wichtig für die zahllosen Durchschnitts-
menschen, denen Alles vorgekaut werden muss; und diese Menschen
existiren für mich nicht.

Für mich und meine Helden ist nicht die Form, die Farbe des
Beinkleides wichtig, sondern der Seelenzustand, in dem sie sich be-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 668, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0668.html)