Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 669

Zur Charakteristik Stanislaw Przybyszewski’s (Neumann, Alfred)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 669

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ZUR CHARAKTERISTIK STAN. PRZYBYSZEWSKI’S. 669

finden, ihre gegenseitige Einwirkung, die Conflicte, die sich ergeben.
Mein Roman besteht nicht aus persönlichem, höchst überflüssigem
Geschwätz des Dichters über seine Menschen, die er für sich sollte
reden lassen, sondern aus einer Reihe dramatischer Scenen: mein
Roman ist eigentlich ein Drama mit ewig wechselnder Scenerie, nur
hie und da, wie in »Homo sapiens«, durch einen stummen Monolog
unterbrochen. Nichts sage ich über meine Helden; dagegen lasse ich
sie oft Dinge sagen, die mir wehe thun, ich lasse sie sich wider-
sprechen, sich freuen und leiden: denn im höchsten Grade wäre es
falsch, mir persönlich eine einzige Meinung zu unterschieben, die meine
Menschen sprechen. Ich lege von vorneherein keine Suggestion auf;
der Leser muss sich selber Alles erringen, seine Phantasie muss mit-
arbeiten, mein Leser muss selbst ein Dichter sein — daher er-
klärt sich das Unpopuläre meiner Schriften «

Das Substrat der psychischen Romane Przybyszewski’s bilden
zwei von ihm fast ausschliesslich behandelte Themata: die Psycho-
logie der Erotik und des Satanismus. Es sind die tiefsten, die
quälendsten Consequenzen, die Przybyszewski aus dem agens movens
des ganzen Universums zieht: Was andere Scribenten mit frivolen
Scherzen, im besten Falle mit der gewöhnlichen Schablonenweisheit
des homme médiocre abthun, wo jene Alpha und Omega der schwersten
Frage in der stupiden Befriedigung des animalischen Triebes sehen,
ohne die unzählbaren, undefinirbaren Zwischenglieder, die Vibrationen
zwischen Anziehung und Abstossung, die unmerkbaren Untergedanken,
die wahnsinnigen Kämpfe der in jedem Geschlechtsverkehr leidenden
Seele zu beobachten — alles das, was Andere in ihrer enormen
Bornirtheit so leichtfertig behandeln, ergibt für Przybyszewski eine
ungeheure Menge von psychologischen Untersuchungen, bei denen sein
Talent bald in babylonischer Schwelgerei den Becher trunken hebt,
bald in grellem Todestanze röchelnd hinabsinkt in jene Tiefen, die
nicht erfassbar sind für Menschengehirne. Er zergliedert die Empfin-
dungen des Sexus in seinen Emanationen mit grausamer, unheimlicher
Genauigkeit, er beobachtet und untersucht die geheimsten Regungen
des Geschlechtes: wo Andere zögernd, von instinctivem Zweifel erfüllt
innehalten, da beginnt Przybyszewski erst seine Minirarbeit. Mit in-
tuitivem Seherblick begabt, erräth er, was sich hinter dem grossen
Fragezeichen der Natur abspielt, in jenen Regionen, die dem Forschen
verschlossen sind. Und wenn er das verschleierte Bild von Sais er-
blickt, dann kehrt er nicht schweigend, nicht weltentrückt zurück, sondern
er legt in wunderbarer, oft grauenvoller Klarheit dar, was er geschaut.

Den Gipfelpunkt dieses seines Könnens bildet wohl die »Todten-
messe«, nicht unrichtig die »Tragödie des modernen, emancipirten
Gehirnes« genannt — ein in unsagbar schöner Form geschilderter
Kampf zwischen dem Geschlecht und dessen Kinde, dem Gehirn. Be-
schreiben, in dürren Worten sagen, was diese düstere Passionsgeschichte
eines abnorm Denkenden und sexuell Psychopathischen enthält, wäre
vergeblich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 669, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0669.html)