Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 670
Zur Charakteristik Stanislaw Przybyszewski’s (Neumann, Alfred)
Text
In letzter Zeit ist Przybyszewski von der Behandlung sexueller
Probleme etwas abgewichen, um sich seinem Lieblingsthema vollkommen
zu widmen: dem Satanismus. »Auf dieses Gebiet wurde ich durch
das Studium des Mittelalters hingewiesen,« schrieb er mir, »ich habe es
mehrere Jahre nach allen Richtungen hin durchgearbeitet und ich kann
behaupten, dass ich in dieser Beziehung eine seltene wissenschaftliche —
nicht praktische — Competenz besitze.«
Sein volles Können als palladistischer Schriftsteller hat Przybyszewski
in den »Satanskindern« niedergelegt. Wer nicht einmal wenigstens
in seinem Dasein zur wehen Erkenntniss gelangte, dass alles Organische
in einem unaufhörlichen, stets wechselnden Kreistanz von Schmerz und
wiederum Schmerz sich drehe, wer nicht, ob gesund oder krank, arm
oder reich, Mann oder Weib, einmal mit blutendem Herzen grell auf-
schrie: »Wozu das Alles? « der kann nicht fühlen, was Przybyszewski
vermag, welch betäubende Gewalt von Dämonenhand diesem dunklen
Sänger dunkler Lieder verliehen wurde. Es ist, als stiere das Haupt
der Medusa aus den Worten hervor, die vor den angstgequälten Augen
zusammenfliessen in ein tiefes, todtes Schwarz; züngelnde, giftige Schlangen
mit den süssen, bestrickenden Augen der Sünde schnellen auf, gleitende
Flammen zucken in die Nacht, Flammen, die aus zerstörten Häusern,
Städten, Welten aufsteigen und im chaotischen Nirwana begraben, was
heilig und erhaben gewesen seit tausenden und abertausenden von
Jahren; nicht mehr Worte sind es, die Przybyszewski zu seiner Schaar
spricht: der Todesjubel Liszt’scher Rhapsodien, die dumpfe Trauer
Tschaikowsky’s, die unendliche Süssigkeit Chopin’s tönen aus den tiefen
Seufzern des Mannes, der seinen Zwecken die Leidenschaft zähmt wie
ein bäumendes Ross. Melodien singt er zur grellbesaiteten Leier, wahn-
sinnige, furchtbare, unbeschreiblich schöne Melodien, die das Herz
packen wie mit krampfender Faust, die lähmen und hinreissen zum
bacchantischen Jubel, zur tödtlichsten Verzweiflung wie der Fandango,
die Tarantella
Man hat Przybyszewski Wahnsinn und Tollheit vorgeworfen. Aber
»verrückt« und »toll«, diese Worte sind zu eng geworden, sie sollten
heute für gewisse Individuen abgeschafft werden: in einer Zeit, in
welcher der Nerv, die Psyche, das Innenempfinden endlich beginnen,
ihre lang unterdrückten Rechte im rasenden Sturmlauf zu erobern, in
einer Zeit, wo Künstler erstehen, deren Endziel nicht mehr ist, die
dubiosen états d’âme des Herdenviehs zu schildern, die gewöhnlichen,
alltäglichen Erscheinungsformen der Liebe, des Lebens, der Natur,
sondern die den feineren und allerfeinsten Vibrationen der Seele lauschen
und sie in fremde, ungekannte Worte kleiden, in Worte, die mehr ver-
schweigen, als sie enträthseln, und die dennoch eine schwerersehnte Er-
lösung und Offenbarung bringen als wären sie Prophetensprüche — in
einer solchen Zeit sind »verrückt« und »toll«, wenn sie in dem früheren,
landläufigen Sinne gebraucht werden, Anachronismen.
Noch einmal soll Przybyszewski in eigener Sache zum Worte
kommen — bei seiner Abkehr von der Sprache, in der er bis jetzt
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 670, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0670.html)