Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 736

Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 736

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736 BLEIBTREU.

die Wenigsten eine Ahnung, das Geheimniss seines italienischen Feld-
zuges begriffen nur Einzelne, selbst 1805 vor Austerlitz wurden schon
kritische Stimmen laut, erst nach Jena verstummte jeder Zweifel und
offenbarte sich die unerhörte Feldherrngrösse des Organisators, obschon
die Börse jeden neuen Schritt der Erobererlaufbahn mit einem Sinken
der Staatsrente begrüsste. Wenn aber dies Bewusstsein seines hohen
Künstlerthums ihn zu Kriegsabenteuern trieb, so gab er dem Drängen
des Militarismus doch nur nach, weil sein Auslebedrang zugleich mit
politischem Selbsterhaltungstrieb zusammenfiel.

Wenn man mit Hunderttaussenden an der Spitze der Civilisation
marschirt, wird natürlich manche Ernte zerstampft. Aber von der Un-
erbittlichkeit eines Naturgesetzes bis zur kleinlichen Tücke despotischer
Verbrechertriebe ist es gar weit. Taine vergleicht den Imperator mit
italischen Renaissancedespötchen, den »letzten Römer« mit Cesare Borgia,
der übrigens Spanier war. Ganz und gar Corse, d. h. autochthoner
Etrusker, darf Napoleon nicht mal als Erbe des Römerthums gelten.
Antik muthet ja die naive Ruhmsucht an: »Wenn man an die Nachwelt
denkt, grollt die Kanone umsonst,« aber ebenso modern wie antik das
stolze Wort: »Für mich besteht die Unsterblichkeit in der Spur, die
ich auf Erden hinterlasse.« Das ist die Sprache grosser Männer aller
Zeiten. Richtiger wäre es schon, ihn als sogenannten Wildling aufzu-
fassen, als abgesonderten, mit der Natur verschwisterten Urmenschen.
Dass ein solcher aus Corsica kommen werde, hatte schon Rousseau
prophezeit.

Besser trifft der Vergleich, den Taine einmal anzieht, mit den
Phantasiemenschen Dante und Michel Angelo. Da wird man allerdings
bejahen müssen, dass für das eminent Dichterische in Napoleons
Natur sich kein analoges Element anderswo als bei diesen Florentinern
finden lässt. Wahrhaftig, man könnte so weit gehen, auch das Roman-
tische und Sentimentale im jungen Bonaparte mit Tasso und Petrarca
in Vergleich zu setzen. Seine Phantasie und Romantik war ganz und
gar romanisch, ungermanisch, wie sie nur auf südlichem, classischem
Boden gedeiht. Eine hochaufsteigende, bergluftumspielte Idealität der
Anschauung, halb mystisch und doch von plastischem Sehvermögen,
welcher die Allegorien des Ewigen, Himmel und Hölle und Sphären,
Weltschöpfung und Weltgericht, Propheten und Sybillen, zu drallen
Wirklichkeiten werden. Deshalb erinnert Napoleons Gebäude an die
Divina Comedia und die Peterskuppel durch die Grandiosität der
Linien und die Classicität der Form. Dabei aber der derbste Natura-
lismus der Ausführung in den Einzelheiten. Das Universale, das nur
nach den grössten Gegenständen des Denkens greift, gestaltet es zu-
gleich mit naivem Realismus. Daher jenes scheinbar Widerspruchsvolle in
Napoleons Gemüthsart, das schon so oft Unreife verwirrte. Wie, Bonaparte
ein schmachtender Liebhaber für eine Buhlerin wie die kokette Josefine?
Ein ritterlicher Amadis von Gallien, der für seine Dame mit aller Welt
Lanzen bricht und schluchzt: »Der Feind soll mir die Thränen theuer
bezahlen, die er dich vergiessen macht?« Er schreibt vor der Schlacht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 736, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0736.html)