Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 737
Text
von Arcole Eifersuchtsbriefe: »Fürchte den Dolch Othellos.« Er wieder-
holt diese Paroxysmen der Jugendliebe später als Weltgebieter noch
in seiner Werbung um die Polin Walewska? Wie ist das zu verstehen,
wie reimt sich das damit zusammen, dass er gleichzeitig — damals
1796, hier 1807 — die perfidesten Gewaltthaten in Scene setzt? Nun,
das Eine ist der Mensch, das andere der Künstler, aber in beiden
Fällen der gleiche Idealist, wollte man nur recht zusehen. Dies hat
Goethe tiefsinnig erkannt: Napoleon wettere gegen alle Idealogie,
während er selber durchaus nur Idealen nachjage und sich ganz davon
erfüllt zeige. Die Zwecke des Imperators als Weltumwälzer waren im
besten Sinne ideale durch und durch; aber wie Dante und Michel
Angelo bei aller Erhabenheit ihrer Gesinnung oft eine Rauheit und
Grausamkeit der Darstellung nicht verkennen lassen, so lassen Napoleon
die harten Mittel ganz kalt. Denn ihm ist Alles nur Mittel zu gigan-
tischen Idealgebilden, auch sein eigenes strategisches Künstlerthum.
Das entpuppt sich schon in seinem ersten Feldzug, dessen Wunder-
bares darin beruht, dass Napoleon darin nicht wie andere Feld-
herren und Staatsmänner erst werden und reifen muss, sondern sofort
als fertiger Meister vor uns steht. Nicht nur als Neutöner und höchster
Vollender der Kriegskunst, sondern als Verkörperung des macchia-
vellischen »Fürsten«, gleichsam zehn Jahrhunderte altrömischer Welt-
politik in seine einzige Person zusammenfassend. Scrupel plagen ihn
so wenig wie den braven Cäsar, in dessen Memorabilien mit tödtlicher
Gelassenheit die Floskel immer wiederkehrt: »Und Cäsar tödtete sie
Alle.« Das thut nun Bonaparte freilich nicht, vielmehr zeigt er sich
auch hier als Mensch barmherzig, »menschlich«; denn als das auf-
rührerische, verrätherische Pavia durch Plünderung bestraft werden soll,
kann er den Jammer nicht ansehen und schützt die Bürger. (Wir bitten
wohl aufzumerken!) Dagegen sackt er alles niet- und nagelfeste beweg-
liche Eigenthum der Fürsten ein, Staaten, Geld, Ochsen und Kunst-
werke; letztere befinden sich natürlich im Louvre wohler als in Italien.
Mit harmloser Unschuld vermeldet er dem Directorium die angenehme
Botschaft: »Die Commission von Gelehrten und Kunstkennern hat eine
gute Ernte gemacht. Wir werden Alles besitzen, was es in Italien
Schönes gibt, mit Ausnahme weniger Gegenstände in Turin und
Neapel.« Der letzte bedauernde Zusatz will besagen: Da kommen wir
auch noch hin! Von Loretto schickt er »das Marienbild mit allen Re-
liquien. Sie werden damit machen, was Sie für gut finden. Das Marien-
bild ist von Holz.« Leider hatten die gleissnerischen Pfaffen die echten
Perlen und Edelsteine mitgenommen; sein Schmerz war tief und innig.
Doch der praktische Mann nimmt auch mit Kleinerem vorlieb, er
nimmt überhaupt Alles. Hört man ihn so wirthschaften, so denkt man
unwillkürlich an Fra Diavolo und Fra Mornale. Doch der glorreiche
Räuberhauptmann erfreut uns wieder durch einen sinnigen Zug, indem
er den Propst seiner Ehrfurcht versichert. Ja ja, der soll nur nicht
den bösen Menschen trauen, die an die Feinde Frankreichs verkauft
sind; waren doch für Napoleon bis zuletzt all seine Gegner »von Eng-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 737, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0737.html)