Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 799

Abschied (Linsemann, Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 799

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ABSCHIED. 799

»Und wie geht es denn Fräulein Trude?« fragte sie plötzlich un-
vermittelt.

»Trude? Wieso Trude? Was meinst du?«

»Nun, ich meine eben Trude. Trude Meixner. Ist sie nett, ja?
Ist sie gut zu dir?«

»Ach, dummes Geschwätz, Tratsch.«

Er hatte also den Muth, Trude zu dementiren.

»Man ist in Wien gut unterrichtet,« sagte sie. »Sie soll leidlich
hübsch sein, meine Nachfolgerin Nun, du hast ja immer einen
guten Geschmack gehabt. Das also ist der Grund, geliebter Freund:
Trude nicht die Zeit.«

Sie blickte ernst nickend aus ihrer Sophaecke auf ihn. Sie sahen
einander an, Aug in Auge. Lange, sehr lange. Sie fühlten es, sie lasen
es in ihren Augen, sie dachten an das Gleiche, an vergangener Stunden
verwelkte Pracht.

Glück und Unglück, das gemeinsam durchlebt, verbindet unauf-
löslich.

Sie schob ihm ihre Hand zu. Er nahm sie und küsste sie innig.

Heisse, sehnsüchtige Wünsche stiegen auf.

»Dora,« murmelte er, »arme Dora«.

Eine tiefe Wehmuth überschlich ihn. Es kam ihm vor, als hätte
er ihr bitteres Unrecht abzubitten. Ein paar Thränen feuchteten ihre
Wimpern — dann barg sie den Kopf in die Sophakissen. Ein heftiges
Schluchzen erschütterte ihren Körper. Es war das Schluchzen lange
verhaltenen Grames, der wie ein Feuerbrand in des Andern Seele fällt.

Er beugte sich über sie und streichelte ihr Haar.

»Arme Dora nicht mehr weinen.«

Und er fühlte, wie ihm selbst die Thränen in die Augen kamen.
»Es thut mir weh.«

Er beugte sich zu ihr herab. Da umschlang sie ihn mit beiden
Armen und küsste seinen Mund. So glühend heiss, so in verzehrender
Liebe, wie einst wie einst Und er küsste sie wieder nur zum
Abschied, natürlich nur zum Abschied.

»Weisst du noch, wie ich dir gesagt habe, wir würden uns nie
vergessen? Dass ich dich rufen würde, wenn ich dich sehen müsste?
Dass ich dich küssen würde, wenn ich wollte? Dass du mir keinen
Wunsch verweigern würdest?«

Ja, er fühlte, dass sie Macht über ihn hatte.

Er wollte sich sanft loswinden, aber sie hielt ihn fest mit ihren
Armen umschlossen. Er dachte an Trude, aber

Es war ganz still im Zimmer. In den tiefen Frieden des linden
Sommerabends rauschte nur von fern die Traun. Vom Gärtchen vor
den Fenstern stiegen die süssen, schweren Düfte von Goldlack und
Jasmin auf.

In den Küssen begehrender Lust und seliger Trunkenheit tauchte
die Gegenwart unter, es war wieder Vergangenheit, die berauschende
Wonne der Vergangenheit.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 799, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0799.html)