Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 814

Das Ergebniss der Münchener Kunstausstellung von 1897 (Fuchs, Georg)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 814

Text

814 FUCHS.

ersten Anfänge einer selbstständigen »angewandten Kunst« in Deutsch-
land, sondern um das Aufleben und Erstarken einer anderen, werth-
volleren, ästhetischeren Art des Kunstempfindens.

Revolution! Das ist das richtige Wort für die Bewegung, als
deren Symptome die angewandte Kunst in Deutschland aufersteht,
eine Kunst, die sich freimüthig zu ihrem Zwecke bekennt, zu dem
Zwecke, das Leben schöner, freudiger, lebenswerther zu machen. Das
schlägt Allem ins Gesicht, was in Deutschland bisher öffentlich über
Kunst gepredigt und geglaubt wurde. Oeffentlich — wir dachten und
thaten immer anders. Aber die bildende Kunst, die nun einmal in
Deutschland die Errungenschaften im Kampfe um die reine Kunst stets
zuerst an die Oeffentlichkeit und in dieser zu einer gewissen Geltung
brachte — sie hat auch hier gewissermassen die Priorität der Ver-
öffentlichung. Dank der grossen Ausstellungen, die kein Werk der
bildenden Künste, das auch nur einigermassen für talentvoll gelten
kann, zurückweisen dürfen, können auch die wahrhaft künstlerischen
Bestrebungen in der bildenden Kunst, neben so und so viel anderen,
alljährlich vor ein grösseres Publicum gebracht werden. Das ist in den
anderen Künsten unmöglich — hier gebieten die Cliquen über die ge-
schäftlichen Factoren, die Cliquen, welche stets, bald bewusst, bald
unbewusst, eine Versicherung der Unfähigen gegen die Schaffenden als
wichtigstes Ziel mit Leidenschaft verfolgen.

Wenn wir die ästhetischen Evangelien, welche im XIX. Jahrhundert
geglaubt wurden, und die in der That Schöpfungen echter Künstler,
wenn auch selten diese ganz, für sich als Beweismittel in Anspruch
nehmen konnten, übersehen, so finden wir folgende: die classi-
cistische, welche sich mehr an das wissenschaftliche als an das
künstlerische Wirken Goethe’s anschloss, die romantische, aus
ihr durch Richard Wagner entwickelt, die romantisch-mystische
nnd — durch Heine — die individualistische. Von diesen ist
nur die classicistische wieder ganz verschwunden. Die romantische lebt
noch ein Scheinleben in der Historienmalerei — in der Kunst der
Provinz. Die romantisch-mystische steht in höchster Gunst bei den
»Höheren«: die zahlreichen Nachtreter Richard Wagner’s, Maler und
Zeichner wie Max Klinger, Stuck, Sattler, gelten ihnen deshalb nur
Alles, dazu am Ende gewisse Verfasser schlechter Verse und billig
mystificirender Theaterstücke. Die »Individualisten« sind die
Ueberlebenden aus jenem kindlichen Sclavenaufstande gegen die Kunst
überhaupt, von dem man unnützerweise eine Zeit lang unter dem
Namen »Naturalismus« Notiz nahm. Ihnen gilt das Ausprägen ihrer
»grossen», »bedeutenden« und »tiefen« Natur durch Mittel der Kunst,
in denen man jedoch nicht eben wählerisch zu sein braucht, als die
einzige des modernen Menschen würdige Weise. Allerdings, dies ist
eine Art, mit Hexen umzugehen; wir meinen mit jenen »höheren«
Frauen, die gerne an die »Tiefe« eines solchen Knaben glauben, wenn
er sie hinreichend oft betont, und ihm und Anderen seine Genialität

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 814, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0814.html)