Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 815
Das Ergebniss der Münchener Kunstausstellung von 1897 (Fuchs, Georg)
Text
bescheinigen. Das ist so das Berliner Genie. In der Malerei er-
scheint der Individualismus allerdings in einer Form, die ernst
genommen werden muss, indem sich hier oft malerische Begabung
mit ihm verbündet. Er wird hervorgerufen einerseits durch eine Ueber-
tragung des gelehrten Interesses am Künstler und seiner Art in die
Production. Man sah, wie emsig sich die Gelehrten abmühten, über
das Leben und die Person eines Künstlers der Vorzeit Einzelheiten zu
sammeln, wie sehr sie sich, um durch exactes, wissenschaftliches Material
Erklärung seiner künstlerischen Eigenart zu finden, für seine Person
interessirten. Eine falsche Association führte sehr schnell dazu, das
Interesse an der Person als das Interesse überhaupt zu nehmen.
Andererseits mussten viele tüchtige Maler zum Individualismus getrieben
werden, weil ihnen keine Aufgaben gestellt wurden, weil sie ihren
Beruf verfehlten. Da war denn, wie gewöhnlich, die graue Theorie
gerne bereit, aus der Noth eine Tugend zu interpretiren, den »Indi»
vidualismus« als »einzig wahre moderne Kunst« zu feiern, wie sie denn
überhaupt allem Schwächenden, Unästhetischen mit besonderer Wollust
zur Macht zu verhelfen sucht. Der »Individualismus« ist eines der
Evangelien derjenigen, die sich schwach fühlen. Denn eine starke Per-
sönlichkeit hat stets ihre liebe Noth, dafür zu sorgen, dass ihre Werke
nicht unwillkürlich zu persönlich werden, dass ihnen die hohe
Allgemeingütigkeit gewahrt bleibe.
Indem Künstler auftraten, welche bekannten: Wir schaffen, um
das Leben, die Wohnungen, die Gebrauchsgegenstände zu verzieren,
war dem »Individualismus« die schroffste Kriegserklärung hingeworfen.
Der Ruf: »Ich will in meinem Werke meine Individualität rücksichtslos
ausdrücken!« kündet das Gegentheil der neuen Verheissung, die da
lautet: »Ich will dir dein Leben schmücken!« Nicht geringer ist die
Feindseligkeit gegen die Romantik und romantische Mystik. Die Ro-
mantik liebte es, die Gräber zu plündern, alte Dinge um sich aufzu-
richten, nachzuahmen mit knechtischer Ehrfurcht. Der Geist der Ro-
mantik beherrschte das ganze deutsche »Kunstgewerbe« des Jahrhunderts
bis jetzt. Gleich einem Häresiarchen wurde derjenige geachtet, welcher die
Zierate nach unseren Bedürfnissen, aus unserem Geiste, aus unserem
Leben finden wollte. Gottlob! Die Ketzer haben ihren Einzug im
Münchener Glaspalaste gehalten! Wie nöthig sind doch die Ausstellungen!
Die romantische Mystik endlich können wir am reinsten
in dem kennen lernen, was man unter den »Höheren« so gemeinhin
für »moderne Musik« ausgibt: die Kunst, nicht mehr um ihrer selber
willen geachtet, sondern um dessentwillen, das sie »ausdrückt«, »sym-
bolisirt«, um ihrer »Tiefe« willen. Es ist ein Evangelium für die »geistig
Schwachen«, für die, welche wenig gesehen und gelernt haben, für
alte Knaben und alte Mädchen. Man muss noch zu glauben vermögen,
dass einer etwas Kluges, etwas Dummes denken könne, was keiner
noch vor ihm gedacht. Man muss tiefe Sprüche und Weisheiten noch
für neu halten, noch für an sich und durch sich werthvoll, sie muss
man feierlich celebriren, das ist dann Kunst. Man kann sie mit sehr
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 815, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0815.html)