Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 873
Text
des Mittelalters: unaufhörlich die hässliche, demüthigende Mahnung an
die Kürze und die Eitelkeit des Lebens! Und hier? Nichts von dieser
einseitigen Gedrücktheit; vielmehr erscheint das Bild, je länger man
es anschaut, je mehr als eine stille, grossartige Satire gerade auf jene
anderen. Angesichts des Todes spricht es vom Schaffen. Du redest
vom Sterben; ich aber verkünde das Leben, ich preise es, ich lebe,
denn ich schaffe! — sagt Böcklin. Er ist deutsch und antik mit dieser
Auffassung; jene alten Meister mit der ihren sind nur deutsch. Er
gibt mit diesem Bild eine Lebens-, eine Weltanschauung; er weist
damit auch schon auf seine Kunstanschauung hin. Meister seines Schick-
sals und voll Vertrauen darauf, ist er auch Meister seiner Kunst und
geht voll Vertrauen seinen Weg.
Seine Kunstanschauung ist bereits in seiner Werthung des Porträts
gegenüber weiteren Stoffen angedeutet. Sie geht von der Lust an der
Erscheinung aus und hat die Darstellung des ganzen Lebens in seinen
typischen Formen zum Ziel: Universalität also in Einer Kunst — in
der bildenden. Lebens- und Weltanschauung — oder Ideen — scheinen
mir in Böcklins Werken durchaus secundär; sie dienen, sie entstammen
der Freude an der Erscheinung. Und dies in Formen wie in Farben.
Es reizt ihn z. B. die Darstellung einer Theatergeberde, wie die der
trauernden Magdalena (in der Kreuzabnahme wie in der Beweinung
Christi); er verfällt, um sie anbringen zu können, auf diese Legende.
Feinsinnig genug; denn er fand diese Geberde typisch nirgends in
seinem so bevorzugten antiken Heidenthum noch etwa im germani-
schen; sie ist echt orientalisch, sie ist fast specifisch christlich. Das
Typische dabei im weiteren Sinne gibt das Drama Christi, die Tragödie
des Genies im Allgemeinen ab. Oder der grausige Schmerz der Mutter
über den Tod ihres Sohnes und zugleich der ehrfürchtige Schauder bei der
Berührung des geliebten Todten: beides bietet ihm die christliche Legende
— und wiederum typisch. Die edle, ehrfurchtsvolle Geberde der Natur-
anbeter fand er so rein und so gross nur im griechischen Heidenthum,
die straffe und gestählte Haltung des Helden und Abenteurers in den
Germanenzügen; die feine Anmuth weiblicher Linien bei Venus und
den Musen; die plumpe, polternde Geberde bei Faunen und Satyrn,
die vertrackte, barocke in seinen Meerfabelwesen, die sehnsüchtige,
räthselhafte in den Weibern seiner Frühlingsbilder.
All dies nicht nur auf die Linie, sondern auch auf die Farbe
anzuwenden: Er giert nach allen Farben; sie alle bietet aber nur
das ganze Leben; also ! Unter- oder eingeordnet werden die Con-
traste, der Wirkung halber. Die Farben werden nicht einseitig etwa
nur in ihrer Höhe oder Tiefe angewendet, sondern in allen Ab-
stufungen jede. Verschiedene Combinationen in einem Bilde wirken
vertiefend, erhöhend oder machen wett; doch vermeidet Böcklin,
wenigstens in wichtigeren Partien des Bildes, das unmittelbare Neben-
einander der Complementärfarben. Er setzt irgendwo ein höchstes
Roth — reinen Zinnober — mildert oder steigert es sodann — je
nach Bedarf — z. B. durch stärkstes Blau — reinen Cobalt; bei der
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 873, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0873.html)