Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 874
Text
Durchführung der ganzen Rothscala endet er in der Tiefe mit Violett,
das an Blau anklingt und dieser Scala ruft, die dann emporgetrieben
wird bis zum hellsten Blau, dem (ungemischten) Weiss. Gelb zählt
zur Scala des Roth, Schwarz zu Blau; Grün ist Mischfarbe und erhält
jenachdem durch Blau oder durch Roth seine nöthige Stufung.
Um alle diese Farben aufführen zu können, hat er in jedem ein-
zelnen Werk eine Menge Wesen und Objecte als deren Träger nöthig;
jedes wird, seiner Bedeutung gemäss, stark oder schwach betont, aber
alle mit gleicher Liebe durchgeführt. Man erkennt an der Pinselführung
die intime Freude, die er an jedem Gegenstand im Bilde hat: da ist
er ganz Homer. Die Beziehungen all dieser Objecte zu einander er-
geben dann Stimmungen, ergeben Handlung; und dadurch entsteht
immer ein Leben, ein Reichthum an Gestalten, Bildern, Symbolen,
Gleichnissen, Thaten, wie in einem Gesang Homers oder einem Shakes-
peare’schen Drama.
Auch die Mannigfaltigkeit der Linie wird vom Künstler sehr
gepflegt; er weiss, dass sie den Werth des Rhythmus in der Musik
besitzt und wie jede Aenderung in ihr den Rhythmus des Bildes steigern
oder mildern kann. Wie die Farbe, so wird auch sie als Symbol ge-
fasst und so nach Bedarf gewerthet; eine selbstverständliche, fast grob-
greifbare Sache für den, welcher der sinnlichen Bedeutung des Wortes
in der Sprache nachzugehen weiss und nichts als abstract, als geistig
oder fein-symbolisch nimmt, was nicht zuvor während langer Zeit grob-
sinnlich gefasst wurde.
Die Wirkung durch Contraste geschieht meist dadurch, dass alles
womöglich auf Silhouette, und zwar auf dunkle wie auf helle Silhouette,
berechnet ist: die Form, die Gestalt also als Ausschnitt auf einem
entgegengesetzten Farbwerth; z. B. in Odysseus und Kalypso der dunkle
(wie eine Erzstatue) ragende Körper des Odysseus auf heller Luft;
der helle, fast weisse Leib Kalypsos gegen dunkles Felsgestein. Aehn-
liches in »Poesie und Malerei«. Dabei sind die Formen der Objecte,
besonders die Umrisse so scharf und individuell gepackt, als wären sie
auf neutralem Grunde, z. B. auf feuchtem, grauem Himmel gesehen;
erst im Bilde werden sie mit Luft umgeben, wie es die Harmonie eben
verlangt. Hier blickt der Plastiker heraus
Selbst in den Gestalten wirkt er gern durch Contraste, natürlich
nur in humorvollen oder in barocken Bildern: plumpe Faune neben
weissen, zarten Nymphen; dunkle athletische Tritonen neben feinen,
aristokratischen Nereiden.
Mit vorwiegend einer Stimmung, einer Linie (der Parallele z. B.
in Ebenen), einer Farbe (nur durch Grau nüancirt) und vorwiegend
ohne Contraste — wie es viele Moderne lieben und preisen —
arbeitet Böcklin nicht, als mit Einseitigkeiten natürlich, die er nicht
ihrem Reichthum an Können und Wollen auf die Rechnung setzt,
sondern ihrer Armseligkeit — die sich aber gleichwohl gern zur Tugend
stempelt. So gibt er auch nicht in einseitiger, fast als Tendenz wir-
kender Schilderung das Leben irgendeiner Menschenclasse wieder; er
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 874, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0874.html)