Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 875

Arnold Böcklin (Kromer, Heinrich Ernst)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 875

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ARNOLD BÖCKLIN. 875

fand Sorge und Armuth, Poesie und Humor, Schmerz und Freude,
Trauer und Frohsinn überall; er hat sie nebeneinander in seinem
Schaffen gegeben, als Contraste, weil sie im Leben als Contraste winken.
Sichtlich oder gar absichtlich bevorzugt ist keines, auch keine Lebens-
oder Weltanschauung mit Wissen und Willen daraus gemacht; er
predigt nicht; er schildert, er schafft. Hat er in seinem umfänglichen
Schaffen christliche Tragik und Demuth neben antiker Lebenslust ge-
schildert, so geschah es auch nur des Contrastes wegen; die eine
Weltanschauung verstärkt die Wirkung der entgegengesetzten.

Man hat immer Böcklin vor anderen Malern als Dichter ge-
priesen; ein Hauptlob. Worin aber liegt die Stärke des Dichters. Man
sagt, in seiner Phantasie und spricht von der überströmenden Erfin-
dungs- und Gestaltungskraft. Mir scheint der Urgrund des Dichters,
des Dichterischen nicht so sehr in der Phantasie zu liegen als in seiner
Erinnerungsfülle. Erst die Erinnerungen machen den Dichter, machen
den gemüthstiefen Künstler überhaupt. Sie können, je nachdem sie in
der Jugend gespeist wurden, auch die Phantasie ausmachen. Nicht
die Erinnerungen, über denen man thränenselig Thaten, Leben und
Gegenwart versäumt, nicht die, welche unverdaut und unverdaulich uns
immer wieder aufstossen, sondern die, welche dem Kindergemüth langsam,
fast ihm unbewusst eingeprägt worden sind, die nie darin erlöschen,
sondern leuchtend und wärmend fortleben, so dass sie alles später
Erlebte mit mildem Glanz durchscheinen und vergolden. In den Ent-
wicklungsjahren gehen diese Erinnerungen dann für den Künstler ver-
loren, vielmehr sie erliegen dem Druck des Lernens, des harten Hand-
werks; sie treten zurück vor dem weiten Ausblick nach Zielen, vor
der Kälte des Lebens, die den Künstler anzuwehen beginnt. Dann tritt
die Ruhe des Mannesalters heran; der Künstler fühlt sich Meister
seiner bildenden Hand. So auch Böcklin. Aber das Leben in seinen
Erscheinungsformen stösst ihn ab; er verkriecht sich in seine Seele,
er sucht Wärme in der Kammer seiner Erinnerungen. Erst durch diese
sieht er jetzt die Formen des Lebens goldener, versöhnlicher; langsam
statt zu schwinden, wächst die Macht und der Schatz der Erinnerungen,
sie mischen sich mit dem Neuen, das auf ihn eindringt; sie geben ihm
anderes Mass, anderen Bezug; Alles wird durch sie runder, voller,
reicher; alle Vorgänge im Leben sieht er mehr und mehr als Märchen-
dinge; was noch nicht Person ist — Bäume, Wald, Wasser, Quellen,
Wolken — wird belebt; es muss belebt werden; denn neben dem
Drang der Erinnerungen treibt der des Schaffens und Gestaltens und
bald sieht der Künstler, dass ihn die Fülle des zudrängenden Stoffes
erdrücken möchte und er sucht, wählerisch genug jetzt, nur das Grösste
und das Liebste aus

Dann spricht man vom Künstler — wie es Böcklin passirte —
er sei Romantiker. Er fliehe in eine »andere Welt«. Daneben aber
preist man mit tausend Trompeten Eigenart, Individualismus in der
Kunst aus, verlangt von jedem Künstler eine eigene Welt und bedenkt
dabei nicht, dass diese »andere« Welt gerade des Künstlers eigene und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 875, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0875.html)