Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 876
Text
eigenste ist, die ihm kein Prediger des Individualismus, kein »modernes
Leben«, kein reales Anfassen der neuesten Probleme in gleicher Pracht,
in gleichem Reichthum geben kann! Auch das Ewige in seinen Werken
übersieht man ob dem tölpelhaften Wort Romantik und versteht nicht
zu unterscheiden zwischen der Romantik, die aus schwachem Herzen
stammt und dem ewigen Schaffen des reichen Herzens, das alle Zeiten
umfasst, das alle tiefen Erlebnisse kennt
Und aus diesen tiefen und reichen Erlebnissen entspringt die
Tiefe und der Reichthum, auch der Anforderungen ans Leben und
der Geschenke, die ein Künstler in seinen Werken der Welt gibt.
Farben und Formen sind Erlebnisse. Volle Farben und Formen, edle,
ernste und heitere Linien, wer kann sie wieder wollen, wer wiedergeben,
als der sie in der Jugend in sich aufgenommen? Ererbt, erworben,
erlebt! Sie sind so schliesslich — Leib geworden. Der immer nur
Kleinheit, Neid, Feigheit, Elend in seiner Jugend um sich sah, wird nie
echt farbenprächtig malen; er wird ein böses, ärmliches Grau nicht los,
und will er’s verbergen, so greift er zur Pose, zu grossen Mänteln, zur
Theatralik; wahr und echt kann er nur sein Erlebniss geben. Und
Böcklin gab’s.
Der Vorwurf gegen Böcklin als einen Romantiker ist so eng als
thöricht und ungerecht. Man sage doch nur, wo er mit seiner ange-
borenen Farbenliebe heute hätte hin sollen, wo das höchste Feierkleid der
schwarze Anzug oder die geschmacklos bunte Militäruniform ist, wo
jedes Haus grau gestrichen ist und jeder Baumstamm kalkweiss. Anton
v. Werner hat ja den Weg gezeigt Böcklin aber musste, wenn
anders sein ganzer innerer Werth und Reichthum nicht verloren gehen
sollte, was ihm der Neid ja gern gegönnt hätte, in’s farbige Alterthum
zurück oder doch in Zeiten, die der Kritiker auf ihre Farbe und Form
nicht so genau controliren kann, wie das Heute
Aber mehr. Nahm der Künstler nicht sein Köstlichstes: seine Land-
schaft, sein Weibideal, seine Männertypen aus der Gegenwart, ebenso
wahr und echt wie etwa ein Uhde oder einer der Worpsweder? Wo
hätte er die plumpen Faune mit ihrem blechernen, meckernden Lachen
sonst gefunden als unter Schweizer Hirten; wo seine edlen Männer
sonst als in Italien? Und der Typus des vornehmen Weibes, das er
malt, stammt aus Basel, seiner Vaterstadt. Leibhaftig wandeln dort
diese aristokratischen Mädchen und Weiber umher, durch die er uns
das antike Weib so anschaulich wie eigenartig und lebendig näher
führte und doch zugleich mit all dem Räthselhaften, das jene Zeit
noch für uns hat. Auch er scheint, wie Jeder, der Basel zum erstenmal
sieht, diese Typen unauslöschbar in sich aufgenommen, auch er das
Geheimnissvolle hinter ihnen gewittert zu haben — wie hätte er’s sonst
so meisterhaft auszudrücken vermocht? Diese Geschöpfe in seinen
Frühlingsahnungen — ahnungs- und geheimnissvoll selber, wie der
Frühling: diese verhaltene Lebensfreude und -Kraft in ihnen; diese
Sehnsucht nach Lebensgenuss, die sich selbst in Schranken hält und
immer doch fragt: warum? Immer hofft und fühlt, es geschähe zum
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 876, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0876.html)