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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 83

Text

VISION. 83

eingeschlummert bin, ich weiss es nicht, aber wie sollte ich, wenn ich
das Meer vollkommen klar vor mir liegen sah wie eben jetzt und
plötzlich auf dem Ocean, dort — vom Süden her — ein Schiff erblickte,
ganz eis- und schneebedeckt. Das Verdeck, Mäste, Raaen und Segel,
Alles in Schnee und Eis gehüllt von erschreckender Weisse.

Der Priester. Und darum bist du so erschrocken, so entsetzt
aufgefahren?

Maria. Wie du bleich geworden bist! Du bist es noch!

Andreas. Weil ich gesehen habe, was ich nicht zu fassen ver-
mag. Um das Schiff herum war das Meer eine einzige grosse einförmige
Eiswüste. Weitab erst begann das offene Wasser, das hier zum Meer-
busen herfloss, wie wir es sehen. Plötzlich verliessen zwei Männer das
Schiff und richteten ihre Schritte über Eis und Schnee dem Meerbusen
zu. Ich sah zu ihnen hin, wie sie immer grösser und grösser wurden,
aber ich konnte nicht erkennen, wer sie waren. Da — als sie an den
Rand der Eisfläche gelangt waren und das Wasser anfing, zögerte der
Eine, als fürchte er weiter zu schreiten, während der Andere auf dem
Wasser hinschritt, als wäre es festes Land. Da fasste mich ein jäher
Schreck, ich fuhr auf, denn in diesem Augenblick hatte ich sie erkannt:
der übers Wasser schritt, war Gerhard, der am Rande des Eises Stehen-
gebliebene war (er sieht mit unsicherem Blick nach Maria hin und fügt leiser
hinzu): Carl

(Schweigen.)

Der Priester. Du hast geträumt, aber welch ein sonderbarer
Traum

Andreas. So muss es wohl gewesen sein, Oheim, aber noch
nie habe ich im Traume etwas so deutlich gesehen. In dem Augen-
blick, wo ich aufsprang, sah ich trotz der Entfernung die Gesichter
von Gerhard und Carl so deutlich, wie ich die euren sehe. Sie waren
todtenbleich

Maria. Welch sonderbarer Traum Onkel Anselm, wenn es
nun kein Traum wäre?

Der Priester. Was kann es denn sonst sein?

Maria. Das weiss ich nicht, das weiss ich nicht, aber ich fürchte
mich! Ich zittere noch mehr um sie als bisher. Ich will nicht denken.
Bei uns am Meeresstrande geschehen oft ganz sonderbare Dinge. Fast
nie verunglückt einer der Unseren in der Ferne, ohne es vorher anzu-
kündigen. Du bist lange von hier fortgewesen, Oheim. Du hast es ver-
gessen. Und doch musst du dich daran erinnern, dass, als unser Gross-
vater während einer stürmischen Nacht mit seiner Barke an einem
Felsen zerschellte und unterging, die Grossmutter plötzlich durchs Fenster
zwei vorgestreckte Hände mit gespreizten Fingern erblickte, wie die
eines Ertrinkenden, der mit den Wellen ringt. Meine selige Mutter hat
es mir so manchesmal erzählt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 83, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0083.html)