Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 84
Text
Andreas. Ja, und bevor Jacob Cormon auf offener See unter-
ging, da hörte seine Mutter in drei aufeinanderfolgenden Nächten seine
Stimme wie tief unter der Erde ächzen und stöhnen. Sie hat gleich
eine heilige Seelenmesse für ihn lesen lassen, denn sie wusste, dass er
nie mehr heimkehren würde. Er ist auch nie zurückgekommen, und bis
auf den heutigen Tag weiss Niemand, was mit ihm geschah, ob-
gleich es drei Jahre her ist. Ich bin damals noch in die Schule ge-
gangen.
Der Priester (beunruhigt). Es ist wahr, als Missionär bin ich
ja meiner Heimat so viele, viele Jahre fern geblieben. Also ihr glaubt,
dass es von schlechter Vorbedeutung ist? Aber nein, nein, Unsinn,
nur abergläubische Menschen denken sich Gott weiss was. Maria, wie
alt warst du, als ich das Land verliess, wie alt bist du?
Maria. Zwanzig Jahre, Oheim.
Der Priester. So warst du damals ein Jahr alt, denn neunzehn
Jahre ist es her. Gerhard war fünf Jahre alt. Ich habe das Kind so
lieb gehabt, es war so hübsch, so zuthunlich, das Ebenbild unserer
Mutter. Andreas ist während meiner Abwesenheit zur Welt gekommen.
Ein strammer Bursch, trotzdem er an Hallucinationen leidet. Er er-
innert etwas an den Vater. Wie kommt es mir jetzt so lang vor,
seitdem ich zuletzt hier gewesen. Da war ich freilich nicht so alt wie
jetzt. Ich hatte noch kein einziges graues Haar. Als ich mich nach
Afrika einschiffte, war ich zweiundvierzig Jahre alt. Wer ist denn der
Carl, von dem ihr eben gesprochen habt?
Andreas. Ein Freund unseres Gerhard, der Sohn des alten
Lorenz von oberhalb des Felsens.
Der Priester. Der Sohn des alten Lorenz? Ja, ja, ich erinnere
mich. Der hatte eine Schramme im Gesicht, sie stammte von einem
englischen Säbel. Lebt er noch? Er muss ja sehr alt sein? Er war be-
deutend älter als ich.
Andreas. Vor sieben Jahren ist er gestorben
.
Maria. Ob Gerhard wohl heimkehrt? Ueber zwei Wochen schon
warten wir vergebens. Und die Erscheinung, sie bedeutet nichts Gutes
nichts Gutes (Sie bedeckt ihr Antlitz.)
Der Priester. Gräme dich nicht, mein Kind, es kann sich noch
Alles zum Guten wenden. Morgen werde ich für die glückliche Heim-
kehr Gerhards eine Messe lesen.
Maria (leise). Und für Carl auch, Oheim
Der Priester. Ja, für Alle, die noch draussen auf dem Meere
sind, soll eine Messe gelesen werden, insbesondere für Gerhard
Maria (ebenso). Und für Carl auch, lieber Oheim, ich bitte
Der Priester. Gut. War er vielleicht dein Verlobter? Ich weiss
ja noch gar nicht, was bei euch vorgeht, ihr müsst mir erst Alles er-
zählen.
(Schweigen.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 84, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0084.html)