Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 86
Text
Maria. Ach, Onkel Anselm, sie kehren nicht mehr wieder, weder
Gerhard, noch mein armer Carl (Zu Andreas.) Du hast also gesehen,
wie er am Rande des Eises stehen blieb, als fürchte er, über das
Wasser dem Meerbusen zuzuschreiten?
Andreas. Carl? Ja, so hat es mir geschienen.
Maria. Onkel Anselm, vergeben die Sterbenden?
Der Priester. Zumeist, selbst das schwerste Unrecht. Aber
warum fragst du danach?
Maria. Weil ich mich an Carl schwer versündigt habe, sehr
schwer. (Flüsternd.) Er hat mich geliebt, Onkeln Anselm
Der Priester. So Und er war dein Verlobter?
Maria. Ja.
(Schweigen.)
Der Priester. Also, was ist geschehen? Willst du, dass Andreas
uns verlässt?
Maria. Er weiss Alles. Wir verlobten uns, und ich habe ihm
ewige Treue geschworen. Dann ging er auf den Walfischfang — das
war voriges Jahr. Er und Gerhard In der Zwischenzeit (sie bedeckt
ihr Antlitz)
Der Priester (sanft). Sprich frei heraus, mein Kind, Alles, wenn
es dich erleichtern kann. Wie in der heiligen Beichte.
Maria. Es war Wahnwitz, Raserei! Ich habe Carl geliebt, wie
ich ihn jetzt liebe, ob er lebt oder todt ist! Ich habe ihn geliebt und
doch Ich habe ihm Treue geschworen und Die Hölle hat mich
bethört. Der Andere wusste, dass ich ihn nicht liebe, dass ich ihn nie
geliebt habe, dass ich wie bewusstlos war, dass ich ihn hasse; dann
ging er zur Kriegsmarine eines fremden Landes Was aus ihm ge-
worden ist, ich weiss es nicht (Nach kurzem Schweigen.) Dann
Gerhard und Carl kehrten zurück Ich habe Carl Alles gestanden
Der Priester. Armes Kind
Maria. Wenn er mich erschlagen hätte! Aber er sprach kein
Wort, erbleichte wie der Tod und bohrte den Blick in den Erdboden.
Was dachte er? Ich konnte es nicht errathen, auch weiss ich nicht,
wie lange wir einander so regungslos gegenüberstanden, ob Minuten,
Stunden oder Ewigkeiten darüber hinweggingen. Er sprach kein Wort
und entfernte sich. Als Gerhard Abends heimkehrte, da hatte ich
die Gewissheit, dass er Alles wusste. Er war todttraurig und wich
meinen Blicken aus, aber er fragte nach nichts, und kein Wort des
Vorwurfes kam über seine Lippen. Das war gewiss Carls Werk. Am
nächsten Morgen war Carl verschwunden, und viele Monate lang hörte
man nichts von ihm. Wo er gewesen? Ich weiss es nicht. Ich fürchte
dem Gedanken Raum zu geben, dass er fortging, um sich zu rächen.
Während jener Zeit sprach Gerhard wenig mit mir und immer über
gleichgiltige Dinge. Er war immer sehr niedergedrückt, und ich glaubte
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 86, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0086.html)